Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 24
Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)
Text
alle staubig vom afrikanischen Wüstensand oder ganz feucht und rostig
von den Dampfercajüten. Mit zärtlicher und rührender Ehrfurcht nimmt
Frau Stanley seine Ruhmeszeichen heraus und gibt meinem Gatten eine
kleine Dose, die aus einer Frucht des Zwergbaumes geschnitten ist, und
welche Stanley für einen seiner seitdem verstorbenen Lieutenants be-
stimmt hatte. Dieses Haus Tennant ist vollständig geistig angehaucht;
der Gatte der älteren Tochter, der für das Uebernatürliche und seine
psychischen Wirkungen sehr eingenommen ist, ist ein Freund und Corre-
spondent des Dr. Carl Richet.
Heute Einladung zu einem Thee bei Herrn Hamilton Aïdé, einem
Dilettanten, Weltmann, Verfasser romantischer Literatur wie allgemein
geschätzter Musik; eine jener Persönlichkeiten, die einem ein Volk
lieben und verstehen helfen, einem seine Vorzüge, seine Verschieden-
heiten erkennen lassen, weil sie der Vereinigungspunkt verschiedener
Gesellschaftsclassen sind — denn sie halten zu den Künsten, zur
Namens- und Geldaristokratie und verstehen es, in einem Salon die
verschiedenen Elemente einer Nation zusammenzubringen.
Ein hübsches Erdgeschoss, malerisch durch seine Bauart, seine
Deckenhöhe, jene alten Hôtels unseres Marais 1) beinahe herausfordernd,
die bezeichnend für ein Zeitalter sind. In den Winkeln Schnurr-
pfeifereien, glänzende Porzellansachen; ferner schöne Gemälde, eine
ausgewählte Möbeleinrichtung, Blumen, ohne welche es in London
keinen Empfang, kein Essen gibt. Man singt: es ist ein französisches
Stück von einer Engländerin gesungen; die fremde Sprache be-
schränkt und hindert die Stimme ein wenig durch ihre murmelnden
Töne, ihre geschlossenen Silben, aber sie ist trotzdem musikalisch und
angenehm, und es bereitet so grosses Vergnügen, bekannte Leute zu
hören.
Elegante Frauen, nicht mit der gesuchten und schlauen Sorgfalt
der Pariserinnen gekleidet, sondern mit einer aristokratischen Einfach-
heit. Die Engländerinnen haben die Stirnbänder noch bewahrt, die
über der Stirn erhöhten Haare, die classischen weiblichen Haartrachten
und die Gesichtszüge zeigen dadurch ein ernsthaftes und bescheidenes
Aussehen, das jetzt bei uns fast unbekannt ist. Dies ist eine einfache
Feststellung. Ich glaube, dass mit unseren Moden und unseren
eleganten Hüten ein wenig Einfachheit um vieles besser hervortreten
würde.
Der Thee wird in einem Nachbarraum eingenommen: dort zeigt
sich sehr viel Neugierde für den bekannten Mann, aber weder auf-
dringlich, noch drängend. Einige angenehme Vorstellungen, man singt
noch, darauf lichtet sich der Salon, leert sich, und die Damen T
schlagen uns noch eine Parkfahrt vor.
1) Ein Pariser Stadtviertel.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 24, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0024.html)