Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 23
Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)
Text
bolischen Attributen zum Schloss Schwenkungen ausführen, geschmückt
mit Blattwerk und kleinen rothseidenen Fähnchen.
In seinem Briefwechsel kommt Flaubert auf zwei reizende
Schwestern, Enkelinnen eines englischen Admirals, den Fräuleins C
zu sprechen. Von Begegnungen in Trouville, gemeinschaftlich mit jenen
jungen Mädchen am Meeresufer verbrachten Sommern, rührt diese
Freundschaft her, und Flaubert spricht in reizender Weise über seine
Besuche. Eines dieser jungen Mädchen starb; das andere ist Frau
Tennant, welche, als sie von unserer Anwesenheit in London erfährt,
uns auffordert, sie zu besuchen, um die Bekanntschaft zu erneuern,
welche wir mit ihr und ihrer theueren Tochter vor etwa zehn Jahren
durch Vermittlung Flaubert’s machten. In der Zwischenzeit hat Fräulein
Dolly Tennant den Forscher Stanley geheiratet, denselben, welcher
Livingstone nach so viel Gefahren wiederfand.
Ich befinde mich in einem prachtvoll ausgestatteten Hôtel nahe
der Themse, von der es ein anderes Hôtel und umfangreiche Gärten
trennen. Ein schönes und nach englischer Art verschwenderisches
Innere; ein Bild der älteren Tochter des Hauses von Millaïs, gemalt
wie Alle dieses Künstlers, mit den jugendlich rothen Backen, den
koketten schwarzen Augen unter einem Strohhut; dass der jüngeren
bildet in seinem ruhigen Tone einen angenehmen Gegensatz.
Da Edison dem Forscher einen Phonographen als Hochzeits-
geschenk verehrt hat, lässt man uns beim »Lunch« die Hochzeits-,
Kirchen- und Festmusik zum Empfange hören. Trotz des Mechanismus,
der numerirten »lebenden Puppe« mit dem aufbewahrten und wieder
hervorgebrachten Ton, kann Frau Stanley, wenn sie die Augen schliesst,
den ersten Tag ihres Lebens als Frau, bei den langsamen Orgelklängen,
sich wieder vergegenwärtigen, bei den lebhafteren Tanzweisen, nach
deren Takt die gelehrte, politische und aristokratische Welt Londons,
in der Stanley viel Bewunderer und Freunde zählt, vorüberzog. Ausserdem
werden auf den Cylindern angenehme oder berühmte Stimmen aufbe-
wahrt, die eines sehr beliebten Schauspielers, jene von besuchsweise an-
wesenden Schriftstellern, und der Gesang einer Freundin. Ich wieder-
hole es nochmals, der Ton verändert sich in diesem wunderbaren
Phänomen, verliert seine Hülle wie eine welkende Frucht: es ist ein
Schatten von Ton; die Aussprache ist geblieben, aber entlaubt, farblos,
wie in einer Puppe oder einem mechanischen Vogel. Der Schall der
menschlichen Stimme mit seinem Zögern oder seiner Bekräftigung eines
Gefühles, dieses bezeichnende Beben, das auch das Gesicht für Zu-
oder Abneigungen erreicht, verliert sich, verfliegt hiebei. Hier zerstreut
sich das »Haus« mit den Reiseerinnerungen Stanleys und den künstleri-
schen Geschmacksrichtungen seiner jungen Frau. In dem Atelier der-
selben, unter den Bildern, die hauptsächlich Kinder, Familienscenen
darstellen, reihen sich Glasschränke mit Tauen, Hämmern, Chrono-
metern des Forschers aneinander, noch nicht alte Erinnerungen, aber
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 23, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0023.html)