Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 22

Randglossen über London (Daudet, Madame Alphonse)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 22

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22 DAUDET.

Schafheerden auf der Weide, eine Windmühle; indem es sich in einem
Spiegel bewundert, der die Gesichter in die Länge zieht oder in jenem
anderen, der sie übermässig breit macht. Eine Vereinigung seltsamer
Gegenstände, Pappthürme, Zinnlaub, Papierblumen. Viele Zuschauer
erreichen ihre Plätze auf Kähnen: das ist die Eigenthümlichkeit
»Olympias«, der See, welcher die Bühne von den terrassenförmig auf-
gebauten Bänken trennt; ein wirklicher See von genügender Tiefe und
Ausdehnung, dass etwa zehn Boote zum Spazierenfahren dort sich
unter Ruderbewegung bequem herumtummeln können. Jedes durch
eine Laterne erleuchtet, stellen sie sich längs des Saales auf, denn der
Vorhang hebt sich eben über dem »Orient«. Ein blendendes Schau-
spiel, hauptsächlich aus Märschen und Ballets mit 1000 Tänzern,
Tänzerinnen und Figuranten bestehend, seltsam in ihren Costümen, die
in einer endlosen Entwicklung flatternder und durchsichtiger Gaze-
sachen, blau und gelb, violett und grün abwechselnd aufeinanderfolgen
lassen oder vereinen. Um den Spielraum für die Tänzer noch zu ver-
grössern, trennen sich zwei Böden als schmale Brücken von der Bühne,
breiten sich aus und vereinigen sich wieder im Halbkreis über dem
Wasser.

Während das erste Bild des »Orients« nur aus Ballets besteht,
spielt sich im zweiten eine tragische Pantomime ab, nach dieser drehen
sich oben auf einer runden Moschee Priester und Priesterinnen in
blendenden Costümen im Kreise; ein Fest folgt, und ohne dass die
zahlreiche und noch grösser gewordene Darstellung sich zu bewegen
aufhört, kommt auf der einen Seite der Bühne eine Elephantenbändigerin
hervor und leitet mit ihrem Stock sechs ungeheure Thiere; auf der
anderen streckt ein Seiltänzer unermüdlich seine Balancirstange aus,
hebt sie hoch, lässt sie sinken und springt bei den Klängen einer
Circusmusik ununterbrochen in die Höhe, während in der Mitte vor
der vergoldeten Moschee, ähnlich einem ungeheuren Bienenkorb, dessen
in Aufruhr versetzte Bienen ein Schwarm Figuranten vorstellen würde,
drei als Teufelchen gekleidete Clowns, beweglich und roth aussehend,
auf drei Leitern, die sie zusammenstellen und wieder auseinander bringen,
Läufe, Sprünge, gefährliche Kletterkunstsücke ausführen, wobei sie sich
fortwährend vereinigen und trennen. Eine schwindelerregende Bewegung:
man weiss nicht, wo man die Augen haften lassen soll, die von allen
Seiten an- und abgezogen werden.

Hierauf eine Karawane aus Leuten und beladenen Kameelen unter
einem Himmel, welcher vom purpurnen Sonnenuntergang zur malwen-
farbigen Dämmerung übergeht und in der vollständig sternfunkelnden
Nacht seltsame und neue Lichteffecte bietet.

Nach dem »Orient« das alte London, die mittelalterlichen Denk-
mäler, der Vorbeimarsch und die Rückkehr der Kreuzfahrer, die aus
Ausfallthoren herauskommenden Lanzen und Banner, locale und närrische
Possen, Tauchkunststücke in der Themse, die durch den künstlichen
See dargestellt wird, auf dem die Körperschaften der alten Handwerke
— auf ungeheuren Galeeren, gleich Carnevalswagen — mit den sym-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 22, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0022.html)