Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 28
Zur Charakteristik der japanischen Kunst (Brosch, Leopold)
Text
Von Leopold Brosch (Venedig).
In der zweiten internationalen Kunstausstellung zu Venedig be-
fanden sich unter den vielen interessanten Abtheilungen auch eine
japanische, über welche ein kurzgefasster Bericht hier erstattet wird. Auch
nur bei flüchtigem Einblick in diese japanische Kunst überkommt uns
ein Gefühl der Eifersucht auf das mit harmonischem Farbensinn hoch-
begabte Volk. Ja, wir ergötzen uns, indem wir unserem pessimistischen
Grausehen entrückt werden, um uns ganz im leuchtenden Farbenschmuck
satt zu schauen, ohne der Schule, in der wir grossgewachsen sind, ab-
trünnig zu werden.
Beim Eintritt in die Abtheilung fesselte eine einfache spanische
Wand unsere Blicke, die Sinne in phantastisch-träumerisches Gefühl
versetzend. Ganz golden funkelt der Hintergrund, worauf ein knorriger
Baumstamm gestickt ist, auf welchem ein stolzirender Pfau mit offenen
Flügeln prangt, hinter ihm eine kleine Pfauin, ein Weibchen von holdem
Liebreiz, die in willigster, gehorsamster Weise ihrem Gatten folgt.
Welch eine zarte Modulation, welch eine richtige, scharfe Contour,
welch formvollendete objective Betrachtung zeigt diese ganze Stickerei,
die harmonisch nur mittelst Gold und Schwarz ihre Wirkung erzielt.
Die europäischen Seidenwürmer mögen ihr Gespinnst nie zu vor-
nehmerem Zwecke hergeliehen haben als ihre asiatischen Brüder im
fernen Osten. Dabei ist Alles mit erstaunlicher Geduld und grandiosem
Schwung ausgeführt: eben diese enorme Anschauungskraft unterscheidet
die Japaner von unserer Race, so dass sie in ihrer Kleinkunst gross
geblieben sind, nicht mit blindem Herumnörgeln ihr Talent verzettelt
haben auf blöde kindische Geduldproben, die den Menschen zwar in
Erstaunen setzen, aber den Künstler deprimiren.
Als Thierbildner, sei es mit Aquarellfarben oder Stickerei mit
Seidenfaden, besitzt das japanische Volk schon längst einen anerkannten
Weltruf; dabei zeichnet es der ernsteste Realismus und eine sichere
Beobachtungsgabe aller dynamischen Gesetze, die dem Auge das ganze
Thier vorzaubert, Form, Seele und Leben desselben mit erstaunlicher
Pracision uns vorführend.
Kubata Tasse hat drei Karpfen gemalt, die durch ihre Trans-
parenz in Staunen setzen; ja, so schwimmen diese Fische, so drehen,
biegen sie ihre schweren, breiten Flanken, kokettiren mit dem Schwanz,
sehen blöde und müde gläsernen Blickes in die Wässer. Andere zwei
Bilder, wie üblich auf Seide gemalt, mit kaum getünchtem Hintergrund,
zeigen andere Fischarten, die gleichfalls mit Bravour und kühner
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 28, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0028.html)