Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 29

Zur Charakteristik der japanischen Kunst (Brosch, Leopold)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 29

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ZUR CHARAKTERISTIK DER JAPAN. KUNST. 29

Sicherheit hingezaubert sind. Jida Takaschimaya stellt das Publicum
vor einen gestickten schwarzen Raben, ein Meisterstück der Form, in
breiten Fadenstichen gegeben, die das grösst concipirte Relief entwerfen
— dazu eine strenge Ausführung, der keineswegs aristokratische Grandezza
abzusprechen ist. Takaschimaya hat auch ein grosses japanisches Schiff
gestickt, welches ungemein durchsichtig vom Wasserspiegel sich ab-
hebt, der poetische und dunkel gehaltene Hintergrund von weissen
Schneebergen umsäumt. Tiefes Seelenleben verrathend, sitzt auf einem
Stamm ein Adler von buntem braunen Gefieder; gleich daneben fangen
sich kleine Vögelein in einem Netz, andere wiederum ziehen ängstlich
schreiend in die Lüfte, das Ganze bunt, fein und mit sehr wenigen
sicheren Pinselstrichen hingeworfen. Wiederum ein ganz weisser, elegant
gebauter Storch, der fröhlich kreisend zu Boden schwebt, während ein
anderer im Busche hockt; Wachteln zwischen Wucherblumen, denen
eine Gefahr zu drohen scheint; junge unbehilfliche Küchlein, um
Bohnenpflanzen hüpfend: Alles ein buntes Fest der Farbe und von
zarten Nuancen. Sollte ich alle weiteren hier ausgestellten Werke nam-
haft machen, welche sich zum Ziele gesetzt, Vögel darzustellen, so
möchte ich vielleicht mehr als Einen zur Ornithologie verleiten. Dieses
mannigfache, immer abwechselnde Leben belauschend, glaubt man es in
seinen verschiedenen feinen Gemüthsbewegungen, seinen Leidenschaften
des Hasses, der Zwietracht, der mütterlichen Liebe, der Angst, Raub-
sucht, Dankbarkeit und Eifersucht zu fassen. Man möchte es nicht
glauben, unter diesen feingefiederten Wesen gibt es sogar tiefe, ernste
Denker mit breiter Stirne, ruhig sinnendem Blick, scharfen knorrigen
Gliedmassen, die zu sympathischen Gestalten emporwachsen, um mit
glitzernden Augen und in philosophischer Ruhe den Beschauer anzustaunen.

Keinen Mangel gibt es in dieser Section an Landschaften:
Bambuswälder, verschneite Banamabäume, Ansichten eines Waldes in
Abendlicht gebadet. Allein die Tour de force bildet ein gestickter
Wasserfall, in welchem das flüssige Element prächtig tosend mit
Vehemenz herunterstürzt, ein Meisterstück in Farbe und Mache, stets
von Damen lorgnetirt, die diese Technik in Ohnmachtsgefühl betrachten
und sich mit ihrem langweiligen Kreuzstich, Perlenstich u. s. w. auf der
ganzen Linie bankerott erklären.

»Die schönen Blumenfarben dienen zur Anziehung der Insecten,
die schönen Früchte zu der der Vögel,« sagt Darwin. Doch die japani-
schen gemalten Blumen ziehen auch unaufhaltsam den Menschen an,
mittelst ihrer feinen Durchsichtigkeit und ihres frischen Duftes. Was
sind nur im Vergleich mit ihnen die decorativen Blumen der Französin
Madelaine Lemaire; hier kein Parfum, wohl gut in der Zeichnung, aber
leblos, eine verdorrte Blume spricht uns mehr an. Bei japanischen
Blumen hingegen kommt es uns vor, als sängen sie Lieder des blühenden
Lenzes, als schmachteten und wiegten sie sich superbe auf ihren Stengeln
wie Töchter Evas.

Was nun die japanische Bildhauerkunst betrifft, müssen wir leider
zugeben, dass ihr eine untergeordnete Stellung anzuweisen ist; es fehlt

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 29, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0029.html)