Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 30
Zur Charakteristik der japanischen Kunst (Brosch, Leopold)
Text
ihr öfter an Form und Symmetrie; unter den vielen sind wohl einige
gute Stücke, so Mäuse und Vögel. Und der ganz kleine Tand ist un-
gemein humoristisch aufgefasst. Doch wo es sich um Darstellung von
Menschen handelt, fehlt es an der richtigen Proportion des menschlichen
Körpers. Von den schönen japanischen Vasen, die einen Weltruhm besitzen,
wäre es überflüssig, zu berichten.
Allein was den japanischen Künstlern in ihrer Gesammtheit
mangelt, ist persönliche Originalität — Einer guckt dem Anderen die
Kunstgriffe ab; es herrscht kein individueller Unterschied zwischen der
Mache zweier Meister, Beide streben in gleicher Richtung, und Alle
sind gleichgerathene Kinder derselben Urahnen, die zum erstenmal den
Pinsel geführt. Keiner ist dem Anderen soweit überlegen, dass man
ihn als den Ersten oder als das Haupt der Schule bezeichnen könnte.
Trotzdem muss man ihnen lassen, dass sie jede Regung im Thier- wie
im Pflanzenleben mit äusserster Genauigkeit zu beobachten und wieder-
zugeben wissen. Und weil sie das können, haben sie gut gethan, zum
erstenmal direct eine europäische Ausstellung zu beschicken; denn ihre
Werke liebvoll betrachtend, wird Einem zu Muthe, als ob zarte Mai-
glöckchen oder violette Veilchen den Sinn betäubten, während hoch
darüber Lerchentöne erschallen und als ob wir selbst an die Schönheiten
der Natur so unzertrennlich gebunden wären wie das blasse Mondlicht an
die thronende Sonne — gebunden durch Macht jener Liebe, von der
Petrarca singt:
Amor fra l’erbe una leggiadra rete
D’oro e di perle tese sott’ un ramo.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 30, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0030.html)