Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 31

Text

DIE »JUGEND« — UND KEIN ENDE.
Von Paul Wilhelm (Wien).

Aus dem beharrlichen Kampf mit der Censurbehörde ist Herr
Marcell Salzer als Sieger hervorgegangen. Die »Jugend« wurde mit ein-
jährigem Kündigungstermin für moralisch erklärt, und der temperament-
volle junge Künstler durfte sich und einem kleinen erlesenen Publicum
die Freude schaffen, das Werk vorzulesen. Die Zweifel an diesem Stück,
die mir schon bei der Lectüre rege wurden, sind mir durch die lebendige
Interpretation des Herrn Salzer nur noch überzeugender zum Bewusst-
sein gekommen. Liegt die Wirkung dieses Stückes rein in der künstleri-
schen Bedeutung und ist es das erlösende Drama der »Jugend« und
unserer jungen Kunst? War es die evolutionäre Kraft der modernen
Kunst, die hier zu unwiderstehlichem Durchbruch gekommen und die
alten, morschen Trümmer der letzten Literaturperiode von der Bühne
fortschwemmte? Ich glaube das nicht. Die »Jugend« ist ein talentvolles
Stück, aber gerade ein modernes Stück im tieferen Sinne ist sie nicht,
so sehr sie auch als solches auf den Schild gehoben wird. Die grosse
und entscheidende Entwicklung, welche das moderne Drama durch-
machte, war der Schritt von der Handlung als willkürlichem poetischen
Ausdruck zum zufälligen Erlebniss, zum äusserlichen, mehr oder weniger
losen Zusammenhang innerer Vorgänge. Dadurch geht die innere Be-
deutung mehr aus den Ursachen als aus den Wirkungen hervor. In
den Tragödien des Lebens liegt eben nicht seine Tragik. Man verzeihe
ein Beispiel: Wenn ein Tourist einen hohen Berg besteigt, herabstürzt
und sich den Hals bricht, liegt die Tragik nicht darin, dass er herunter-
gefallen, sondern darin, dass er hinaufgestiegen ist. Das ist die so ent-
scheidende Verrückung, welche die moderne Kunst in der Auffassung
des Lebens durchgeführt. Der Tod des Einen, der Sieg oder Untergang
des Anderen sind Einzelerscheinungen, die mit dem Interesse an der
Figur des Helden erblassen, die wohl Gestalten und Vorgänge des
Lebens zeigen, aber der Perspective zeitlicher Vertiefung entbehren.
Wir alle tragen in uns durch unser ganzes Leben eine Fülle innerer
Tragiken, die den einen nur mehr, den anderen weniger bewusst
werden. Je nach diesem Bewusstsein allein sind wir glücklich oder
unglücklich. Aber alle führen wir ausnahmslos zielbewusst oder in-
stinctiv die erschütterndsten Kämpfe gegen das Leben. Sie erklingen
in uns in leisen Dissonanzen, die aber im Lebenschor ungehört und
unbeachtet verhallen. Der moderne Dichter aber muss sie erhorchen jene
inneren Stimmen, die ihre Qual nicht wild hinausschreien und dennoch
so viel Uneingestandenes zu enthüllen, so viel Verborgenes zu erzählen
wissen. Darum ziehen wir uns mehr und mehr von dem brutaleren

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 31, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0031.html)