Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 32
Die »Jugend« — und kein Ende (Wilhelm, Paul)
Text
Ausdruck des Schmerzes zurück, und darum wird auch das Sterben
selbst in der modernen Dichtung immer mehr und mehr verschwinden.
Denn die Tragik des Todes ist eigentlich nur die Tragik des kläglichen
Lebenswillens. Ein Menschenleben in seiner engen Umgrenzung, mit
seiner reichen Welt des Wünschens und der ganzen Armseligkeit seines
Vollbringens umschliesst eine tiefe und erschütternde Tragik. Aber der
Strom des Lebens geht darüber hinweg. Der Tod selbst ist kein Ereigniss,
kein Abschluss, er ist nicht Höhepunkt, nicht Katastrophe der Dichtung,
denn er ist das Unabwendliche, das Unerbittliche. Darum wird der
moderne Dramatiker ihn selbst als äusserliche, letzte Consequenz kaum
gebrauchen. Wie dramatisch tief und erschütternd ist die Gestalt
des Doctor Rank in »Nora«, der still und lautlos von der Lebens-
bühne verschwindet, gegen die hustende und hinsiechende Cameliendame.
Darum bedarf auch der moderne Dramatiker keines abschliessenden
Lebensbildes seiner Helden. Er ist nicht der Biograph seiner Gestalten,
nur der Schilderer der ihnen innewohnenden Züge des Lebens; er
greift ein Stück aus demselben heraus, dann lässt er sie weiter ihrer
Wege ziehen. Er drängt sich nicht durch seine stoffliche Erfindung
zwischen die Kunst und das Leben.
So verzichtet er in weiser Erkenntniss auf alles Willkürliche.
Er erzählt uns nichts beliebig Erfundenes, er verweist uns nur auf
Selbsterschautes und überlässt seine Helden ihrem Schicksale in dem
Augenblicke, da es siegend ihrer Herr geworden und sie auf den
Pfad des Unabwendlichen, das da kommen muss, gedrängt hat.
So haben die meisten Stücke Ibsen’s für das Publicum keinen
Schluss. O ja, sie haben ihn, ebenso wie die Schicksalstragödien des
Herrn von Houwald. Er wird nur nicht mehr gespielt. Aber gerade
in diesem Mangel liegt die Bedeutung der modernen Kunst. Der
scheinbare Ausblick ins Leere eröffnet uns nur die tiefen Perspectiven
des Lebens. Um jenes Unvollendeten willen tragen wir den Eindruck
und die Wirkung mit uns durchs Leben. Wie etwas Schweres, Nieder-
drückendes, das wir nicht abschütteln können, haftet es uns an. Wir
können kein Kreuz davor aufrichten und sagen »Requiescat in pace«.
Wir können nicht das milde Vergessen darüber breiten, denn es ist
nicht gestorben, es lebt und wirkt in uns fort und reift in uns zu
seinem Ende.
Wenn nun Halbe’s »Jugend« auf uns nicht so lange und nach-
haltig einwirken wird, so liegt das wahrlich nicht am Stoff. Er um-
fasst die ergreifendste Tragik des Lebens: unsere Jugend, ihre über-
schwengliche, frohe Kraft, die junge, keusche, reine Empfindung der
unentweihten Seelen und das schwere, plumpe Gespenst Leben, das
sich träg an sie heranwälzt, mit rauher Hand in das feine Spinnen-
gewebe ihrer Träume greift und die zarten Schmetterlingsflügel unserer
Seelen zertrümmert. Die Tragödie des Ikarus Menschenseele! Aus den
beiden jungen, rührenden Gestalten Annchens und Hansens entwickelt
sie sich, und schwer und grau und traurig richtet sie sich vor uns
empor. Zwei junge Seelen, in die das jauchzende Leben einzieht und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 32, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0032.html)