Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 33
Die »Jugend« — und kein Ende (Wilhelm, Paul)
Text
mit ihm seine rauhe, unerbittliche Tragik. Eine Studentenliebe und
der Fall eines jungen Mädchens! Siegreich triumphirt die Natur in
ihren ersten drängenden Trieben über Sitten und Gesetz der in Moral
entarteten Menschheit. Aber diese wird Siegerin bleiben. Gleichgiltig
und träge wird sie sich zwischen die beiden drängen, wie eine form-
lose starre Masse, wie ein Felsblock, an dem ihre schwachen Hände
hilflos umhertasten werden. Das hätte Halbe in der »Jugend« nieder-
legen können. Es ist ihm nur so weit gelungen, als die Gewalt des
Stoffes ihn mit sich selbst fortgetragen. Wo er dichterisch eingriff, ver-
wischte er, anstatt herauszuarbeiten. Die Figuren des Pfarrers und des
Caplans sind ihm gelungen. Auch Hans. Weniger Annchen. Ehe noch
Hans da ist, jauchzt und jubelt sie: »Hans, Hans!« Wir fühlen, dass
sie ihn lieben wird. Warum? Nicht weil es in ihr empordämmern wird
mit der ganzen Machtfülle des Lebens, weil es in ihr aufgehen wird
wie die junge knospende Saat, sondern weil der Dichter es so vorbe-
reitet. Mit dieser bühnendichterischen Schlauheit hat Herr Halbe das
Leben retouchirt. Aber man merkt das gleich. Auch in der Entwicklung
ist Manches äusserlich, Manches oberflächlich, Vieles aber von rührender
Gewalt. Das Leben ist eben ein grosser Dramatiker, und Max Halbe
ist nicht ohne Fleiss und Talent in seine Schule gegangen. So ent-
wickelt sich diese junge Liebe in ihrer ganzen Aussichtslosigkeit, ein
Gottgeschenk des Augenblicks, eine Sünde vor dem Forum des Lebens.
Und es wird herankommen an die Beiden, unausweichlich wird es
kommen und wird sie trennen — trennen für immer. Die Worte
Annchens: »Hanschen, wir sehen uns nicht wieder,« und dann: Hörst
du, Hanschen, jetzt wird der Wagen ’rausgeschoben. Jetzt ist gleich
Alles zu Ende « diese erschütternde Ahnung des jungen Mädchens,
da Hans wegfahren soll, um etwas Ordentliches zu werden, damit er
sie später heimführen könne — ist tief erschütternd und tragisch.
In diesen wenigen Worten fasst Anna Alles zusammen: die tödtliche
Angst vor dem Leben, das sich zwischen sie und Hans stellen wird. Sie
fühlt, dass es ihr Feind ist, dass es die Romantik ihrer kindlichen
Seelen zerstören wird, und in gequälter Pein möchte sie Hans fest-
halten, obwohl sie ihn bereits verloren weiss. Er geht, und sie fühlt,
dass er nicht wiederkommen wird. Diese instinctive Furcht vor dem
Leben ist die Tragik dieses Stückes. Das heisst, sie würde es für den
modernen Dichter sein. Herr Halbe geht an ihr vorüber. Er gibt dem
Annchen einen cretinhaften Bruder, der trotz seiner absoluten Ver-
blödung doch die Klugheit besitzt, dem Dichter mehrmals aus der
Verlegenheit zu helfen. So im zweiten Act. Der Caplan macht den
Pfarrer darauf aufmerksam, dass zwischen den Beiden eine Liebelei
vorliege. Das geschieht wohl darum, weil Herr Halbe offenbar empfand,
dass es undramatisch, gewiss aber unmodern sei, die Beiden für kurz-
sichtiger zu halten als das gesammte Publicum. Der Pfarrer ruft Hans,
um ihn einem Verhör zu unterziehen, das der Dichter, um Aufschub
zu gewinnen, von der Liebelei auf dessen Glaubensbekenntniss ab-
lenkt. Nun müsste unbedingt die Entdeckung kommen, Hans müsste
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 33, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0033.html)