Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 36
Text
SCHWACHEN.
(Zur politischen Situation.)
Von F. Schik (Wien.)
Es ist nicht mehr nobel, sich mit Politik zu befassen. Ehemals
ein vornehmer Beruf, heute ein anwiderndes Metier. Kein geistiger
Fernkampf regt wie früher zum Mitdenken an; das Handgemenge der
Phrasen macht politisch Schule bei den sogenannten Staatsmännern
und bei den Parteien.
Lang geübte Bürgertugenden haben plötzlich ihren Glanz ver-
loren, ohne dass die Gehirne darauf vorgesehen waren. Vorstellungen,
die in den Köpfen seit altersher beisammenlagern, sind mit einemmale
in der Aussenwelt auseinandergefallen, und Dinge, die sich in der
neugeborenen Wirklichkeit schon nahe stehen, sind in den Köpfen
noch getrennt. Das Innere der Menschen hat die Homogenität mit
den Zuständen, die sie umgeben, gänzlich verloren.
Wenn heute ein Einzelner sich Zufriedenheit mit seinen Ver-
hältnissen erringt, so setzt er sich dadurch in Gegensatz zur all-
gemeinen Unzufriedenheit. Was einst das Ziel des Individuums war,
sich Behaglichkeit zu verschaffen, erscheint nun als antisociales Be-
ginnen. Ein Hoffnungsumsturz bereitet sich vor. Ein vorbildloses Inter-
regnum ist im Anzuge.
Die Einen halten sich noch an die ruinenhafte, alte, die Anderen
an die embryonale, neue Pflichtidee. Jene ist nicht mehr, diese noch
nicht stark genug, den ganzen Menschen zu durchdringen. So entsteht
der Gegenwartskampf der Schwachen gegen die Schwachen.
Der Rapidität, mit der das Leben sich mehr und mehr ver-
öffentlicht und jedem Einzelnen eine Ueberfülle von Thatsachen vor
Augen führt, konnte die Aufnahmsfähigkeit der Massen nicht nach-
kommen. Die geistige Verarbeitungsträgheit verhindert das Operiren
mit dem Wahrgenommenen. Wie man befürchtet, in Bezug auf die
Beweglichkeit der jetzigen Massenheere in einem nächsten Kriege
schlimme Erfahrungen zu machen, so verhält es sich schon dermalen
mit der Unmasse von Thatsachen, die jetzt alle für agitatorische
Zwecke assentirt werden. Auch den schwächlichsten Vorfall hält man
noch für tauglich zum Kampf mit dem Gegner.
Diesem wüsten Durcheinanderwerfen von Geschehnissen, diesem
Thatsachenunwesen, welches man jetzt fälschlich Realpolitik nennt —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 36, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0036.html)