Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 34

Text

34 WILHELM.

wieder fort, und — die »Jugend« bliebe unvollendet. Da kommt
Amandus herein und schreit: »Kommen schnell! Kuh haben Junge!
Kommen schnell! Grosse Kalb!« Der Pfarrer vergisst Liebelei und
Glaubensbekenntniss und beeilt sich, nachzusehen — »ob auch Alles
in Ordnung ist«. Damit ist aber die so unselige Thätigkeit des be-
dauernswerthen Amandus noch nicht erschöpft. In seiner grässlichen Dumm-
heit bringt er am Schluss das ganze Stück um. Das hat nun Herr Halbe
davon. Wieso sich dies ereignet. Aber das Leben ist ja so einfach, so
selbstverständlich! Im zweiten Act schiesst Hans mit der Flinte
(Teschin) nach der Scheibe und gibt dann die Flinte Amandus.
Anna und der Caplan sehen ebenso wie das Publicum sofort ein, dass
einem Verrückten kein Gewehr in die Hand gebührt. Trotzdem aber
ist er am nächsten Tag noch immer im Besitz desselben, und da Hans
und Annchen von einander Abschied nehmen, will er Hans nieder-
schiessen, trifft aber Annchen. Damit ist dem Stück die ganze Tiefe
seiner Tragik vom modernen Standpunkt genommen. Dass ein junges,
bildschönes Mädchen von einem Wahnsinnigen niedergeschossen wird,
ist zwar sehr traurig, aber Tragik des Lebens liegt keine darin. Diesem
Stück, in dem Alles nach einem Ausklange ins Leben hinüberringt, das
wir für immer in uns herumtragen könnten, hat Herr Halbe selber die
Spitze abgebrochen.

Eine blosse Ungeschicklichkeit ist das gewiss nicht zu nennen.
Aber es zeugt, dass Herrn Halbe in der »Jugend« der eigentliche Blick
auf das Leben und seine innere Tragik noch fehlt, dass sie wohl ein
talentvolles Stück ist, aber kein erlösendes. Warum nun dennoch die
»Jugend« so eingeschlagen hat? Das Geheimniss ist leicht gelöst. Wir
sind im Entwicklungsstadium einer jungen Kunst. Immer wenn die
Anschauungen eine Phase überwunden und auf neue Wege einlenken,
flattern neue Stoffe auf, die ihre Bearbeitung nahezu gebieterisch er-
heischen. In diesem Sinne ist nun das alte Thema der Liebe ein neuer
Stoff geworden. »Romeo und Julia«, die beiden repräsentirenden Dichter-
gestalten der Tragik junger Liebe, erforderten eine Neugestaltung im
Sinne unseres modernen Empfindens. Die Romantik des Lebens von
heute hat nicht jene Stütze gesunder Kraft, die aus »Romeo und Julia«
im dramatischen Sinne Heldengestalten machen konnte. Die Helden
der modernen Liebestragödie sind nur Helden des Erduldens. Nicht
die Grösse ihres Empfindens, die schöne Ueberschwenglichkeit ihrer
Seelen sind das dramatische Element ihrer Gestaltung, sondern die
schmerzliche Passivität ihrer Kraft, die quälende Machtlosigkeit gegen-
über den äusseren Vorgängen des Lebens, das als der Todfeind ihres
inneren Erblühens dem rauhen Frost gleicht, der zerstörend über die
Keime des Frühlings haucht. Die Romantik Romeo’s und Julia’s, ver-
setzt in die brutale Prosa unseres Alltagslebens, das ist die Tragik des
modernen Dramas der Jugendliebe. Zwischen den beiden Liebenden
steht nicht der verneinende Machtwille des Einzelnen, sondern das
durch die socialen Verhältnisse bestimmte unerbittliche Machtgebot des
Lebens. So ist es nicht mehr eine Tragödie der Familie, sondern eiue

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 1, S. 34, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-01_n0034.html)