Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 46

In der Christnacht (Henckel, W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 46

Text

46 TSCHECHOW.

»Kehre um!« wiederholte flehend dieselbe Stimme.

Das Echo schien diese Worte zu wiederholen, sogar im Krachen
der Eisschollen, im Heulen des Sturmwindes, und im Weihnachtsgeläute
glaubte er die Worte »Kehre um!« zu vernehmen.

»Rudere ans Land zurück!« rief er dem Närrchen zu.

Aber Petruscha achtete nicht darauf. Er biss die Zähne zu-
sammen, blickte hoffnungsvoll in die Ferne und arbeitete mit seinen
langen Armen immer vorwärts. Ihm rief ja Niemand »Kehre um!« zu,
und der Schmerz, der ihn schon jahrelang gepeinigt hatte, wurde immer
unerträglicher. Litwinow packte ihn am Arm und wollte ihn zwingen,
umzuwenden, aber Närrchens Hände waren wie von Stahl, Litwinow
konnte sie nicht losreissen. Es war auch schon zu spät. Eine ungeheure
Eisscholle rauschte dem Kahn entgegen; sie sollte den armen Petruscha
von seinen Leiden auf ewig befreien

Das bleiche, junge Weib stand bis zum Morgen am Meeresufer.
Als man sie halberstarrt und ganz erschöpft nach Hause und ins Bett
brachte, flüsterte sie immer noch:

»Kehre um!«

In dieser Christnacht hatte sie ihren Mann lieben gelernt.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 46, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0046.html)