Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 45
Text
»Wie du durchnässt bist! Wie du zitterst!« flüsterte er und drückte
sie an seine Brust. Auf seinem vor Freude und Wein trunkenen Ge-
sichte leuchtete ein gutmüthiges, kindliches Lächeln Hatte sie ihn
doch mitten in der Nacht, bei diesem stürmischen, nasskalten Wetter,
hier erwartet! Das war doch offenbar ein Zeichen von Liebe! Er
lächelte glückselig.
Dieses Lächeln wurde durch einen durchdringenden, herz-
zerreisenden Weheruf beantwortet. Weder das Getöse des Meeres, noch
das Sturmgeheul konnten diesen Schrei übertönen. Das junge Weib
mit den verzweiflungsvoll entstellten Gesichtszügen hatte ihn nicht
unterdrücken können; unwillkürlich entrang er sich ihrer Brust und
offenbarte Alles: den erzwungenen Ehebund, den unüberwindlichen
Widerwillen gegen den trunksüchtigen Mann, die Seelenangst der Ver-
einsamung und schliesslich auch die gescheiterte Hoffnung auf ein freies
Witwenthum. Ihr ganzes verfehltes Leben mit allen Leiden, Thränen
und Schmerzen offenbarte sich in diesem Schrei, den sogar das Krachen
der Eisschollen nicht übertönen konnte. Der Mann verstand diesen
Verzweiflungsschrei; man konnte ihn nicht missverstehen.
»Du bist untröstlich, dass mich der Schneesturm nicht begraben,
die Eisschollen nicht erdrückt, die See nicht verschlungen hat!« flüsterte
er. Seine Unterlippe zuckte, ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund.
Er liess seine Frau los und schritt die Stufen hinab.
»Dein Wille geschehe!« fügte er dann hinzu und näherte sich
dem Kahn. Das Närrchen Petruscha hüpfte auf einem Fusse, biss vor
Schmerz die Zähne zusammen und suchte den Kahn ins Wasser zu schieben.
»Wohin willst du?« fragte ihn Litwinow.
«Ich kann die Schmerzen nicht länger aushalten, will ertrinken
Die Todten leiden nicht!«
Litwinow sprang ins Boot. Das Närrchen kletterte ihm nach.
»Lebewohl, Natascha!« rief der Mann. »Mag dein hier im Sturm
und Unwetter gehegter Wunsch in Erfüllung gehen! Mit Gott!«
Das Närrchen holte mit den Rudern aus, und nachdem der
Kahn einer grossen Eisscholle ausgewichen war, schwamm er dahin,
den hohen Wellen entgegen.
»Vorwärts, Petruscha, rudere fest!« sagte Litwinow. »Weiter,
immer weiter!«
Am Rande des hin und her schwankenden Kahnes sich fest-
haltend, blickte Litwinow zum Ufer zurück. Natascha war nicht mehr
zu sehen; auch das Ufer entschwand nun seinen Blicken.
»Kehre um!« hörte er nun plötzlich eine schmerzerfüllte, weib-
liche Stimme.
Er glaubte einen Verzweiflungsruf in diesem »Kehre um!« zu ver-
nehmen.
»Kehre um!« ertönte es abermals.
Sein Herz pochte sein Weib rief ihn! Nun hörte man
auch die Kirchenglocken läuten — das heilige Christfest hatte be-
gonnen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 45, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0045.html)