Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 44
Text
»Gott hat es so gewollt! Um unserer Sünden willen, gnädige
Frau «
Denis athmete tief auf und fügte dann mit sanfter Stimme
hinzu:
»Lassen Sie uns hinaufgehen, gnädige Frau; Sie sind ganz durch-
nässt!«
Alle, die am Ufer standen, hörten nun ein leises, kindliches, glück-
liches Lachen Es kam von der bleichen Frau.
»Sie scheint den Verstand verloren zu haben!« flüsterte Denis
einem ihm begegnenden Mann zu. Ihm war das Weinen nahe.
Der Mond trat nun aus den Wolken hervor, es wurde heller.
Man konnte jetzt Alles deutlicher unterscheiden: das schneebedeckte
Meer, die blasse Frau, Denis, das Närrchen Petruscha und seine von
Schmerzen verzerrten Gesichtszüge. Auch einige Bauern standen in
der Nähe.
Nun erscholl der erste deutliche Krach unweit des Ufers. Dann
folgte ein zweiter, dritter, und jetzt brach ein fürchterliches Getöse los.
Die Eisfläche gerieth in Bewegung und verwandelte sich in eine dunkle,
wogende Masse. Das Ungethüm war erwacht und begann nun sein
Zerstörungswerk.
Das Geheul des Sturmes, das Brausen der Baumwipfel, Petruscha’s
Gestöhn und das Glockengeläute — Alles wurde vom Tosen des
Meeres übertönt.
»Schnell, Alle hinauf!« rief Denis. »Das Ufer wird gleich über-
schwemmt sein, kommet Alle in die Kirche, die Frühmesse beginnt bald.
Kommen Sie, gnädige Frau, es war Gottes Wille.«
Er trat zu ihr heran und wollte ihren Arm stützen.
Sie schob ihn zur Seite, erhob ihr Haupt und schritt auf die
Treppe zu. Jetzt war sie nicht mehr so todtenbleich wie vorhin. Ihre
Wangen waren leicht geröthet; keine Thräne glänzte in ihren Augen,
die Hände zitterten nicht mehr. Sie fühlte, dass sie die hohe Treppe
jetzt allein, ohne fremde Hilfe ersteigen könne.
Als sie die dritte Stufe betrat, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Vor ihr stand ein hoher, stattlicher Mann in Wasserstiefeln und,
kurzem Pelz.
»Ich bin es, Natascha fürchte dich nicht!« sagte er.
Natalja Ssergejewna wankte. Sie erkannte in dem Mann ihren
Gatten. Er schloss sie in seine Arme, hob sie auf und küsste sie.
Wein und Cognacdünste verbreiteten sich um ihn, er war nicht ganz
nüchtern.
»Freue dich, Natascha,« fuhr er fort, »ich bin nicht im Schnee-
gestöber umgekommen, nicht im Meer ertrunken. Während des Schnee-
sturmes zog ich mit den Arbeitern nach Taganrog und gelangte glück-
lich ans Land. Dann fuhr ich direct hieher und bin soeben ange-
kommen.«
Sie erblich, zitterte, starrte ihn wortlos und erschrocken an und
traute ihren Augen nicht.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 44, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0044.html)