Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 43
Text
schien ebenfalls etwas erspähen zu wollen. Auch er wartete auf ein
Ereigniss. Seine Hände ruhten auf den Rudern, das linke Bein hatte
er unters Gesäss gesteckt.
»Unser Närrchen leidet grosse Schmerzen,« sagte Denis und
näherte sich dem Boot. »Dem Aermsten thut sein Bein weh, und er
hat sogar den Verstand darüber verloren! Du solltest auch lieber
in die warme Hütte gehen. Hier in der feuchten Kälte leidest du nur
noch mehr.«
Petruscha schwieg. Er zitterte, und seine Gesichtszüge waren vor
Schmerz entstellt. Die linke Hüfte, dort, wo der Nerv sitzt, that ihm
furchtbar weh.
»Geh’, Petruscha, lege dich auf den warmen Ofen. Will’s Gott,
werden deine Schmerzen bis zur Frühmesse aufhören.«
»Ich wittere was!« murmelte Petruscha, krampfhaft den Mund
verzerrend.
»Was denn, Närrchen?«
»Das Eis bricht!«
»Woher weisst du das?«
»Ich höre solch ein Geräusch. Der Wind weht jetzt von drüben
er. Dort hinten geht es los!«
Der Alte horchte in die Ferne hinaus, hörte aber nur das
Heulen des Sturmes und das Rauschen des Regens. So verging eine
halbe Stunde in schweigender Erwartung. Der Sturm tobte ärger und
immer ärger, als ob er das Eis zertrümmern, dem alten Weib ihren
Jewssej und der bleichen Frau ihren Gatten rauben wollte. Nun liess
der Regen etwas nach, es rieselte nur noch; in der Dunkelheit waren
schon einzelne menschliche Gestalten am Ufer, die Silhouette des
Kahns und die weisse Schneedecke erkennbar. Nun hörte man auch
Glockengeläut. Dort oben, auf dem alten Kirchthurm im kleinen
Fischerdorf wurde geläutet. Die vom Schneesturm und Regen er-
eilten Menschen sollten, um sich zurecht zu finden, diesem Geläute
folgen; das war gleichsam wie ein Strohhalm, an den sich der Er-
trinkende rettet.
»Grossvater, hörst du? Das Wasser kommt näher!«
Der Alte horchte abermals. Diesmal vernahm er ein Geräusch,
das weder dem Heulen des Sturmes, noch dem Rauschen des Regens
glich. Das Närrchen hatte Recht. Es war nicht mehr zu zweifeln,
dass es Litwinow und seinen Leuten nicht mehr gelingen werde, ans
Land zurückzukehren, um Weihnachten zu feiern.
»Es ist richtig,« sagte Denis, »das Eis bricht!«
Das alte Weib schrie laut auf und sank schluchzend in die Knie.
Die bleiche Frau, zitternd vor Frost und Nässe, näherte sich dem Kahn
und horchte ebenfalls. Auch sie vernahm nun das unheilverkündende
Getöse.
»Vielleicht ist es doch bloss der Sturmwind?« fragte sie. »Bist
du auch sicher, Denis, dass es das brechende Eis ist, was man dort
hört?«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 43, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0043.html)