Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 42

In der Christnacht (Henckel, W.)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 42

Text

42 TSCHECHOW.

»Wer da!« erscholl eine männliche Stimme.

»

Ich bin es, Denis «

Denis war ein rüstiger, alter, graubärtiger Mann; er stützte sich
auf einen Stock und blickte gleichfalls in die finstere Ferne. Jetzt
suchte er ein Schwefelhölzchen anzuzünden, um sein Pfeifchen in Brand
zu setzen.

»Sie sind es, Natalja Ssergejewna!« fragte er staunend. »Bei
solchem Wetter! Was wollen Sie denn hier? Sie werden sich erkälten,
und bei Ihrem leidenden Zustand wäre das höchst gefährlich. Gehen
Sie nach Hause, Natalja Ssergejewna!«

Jetzt hörte man das Schluchzen einer alten Frau. Es war die
Mutter von Jewssej, der sich unter den Fischern befand, die mit
Litwinow ausgezogen waren. Denis seufzte und sagte dann:

»Bist schier siebzig Jahre alt und thust noch wie ein unver-
nünftiges Kind! Weisst du denn nicht, dummes Weib, dass wir Alle
in Gottes Hut stehen! In deinem Alter und bei deiner Schwäche
müsstest du jetzt auf dem warmen Ofen liegen. Geh’ heim,
Mütterchen.«

»Aber mein Jewssej! Ich habe ja nur den Einen, Denissuschka!«

»Wie Gott will! sage ich dir. Wenn dein Sohn nicht im Meere
umkommen soll, so kann das Eis immerhin brechen, ihm geschieht
dennoch nichts. Soll er aber nach Gottes Willen diesmal sein Leben
verlieren, so dürfen wir nicht murren. Weine nicht, Alte, Dein Jewssej
ist nicht allein dort, auch Andrej Petrowitsch und die Anderen sind
in der gleichen Gefahr!«

»Ob sie wohl noch am Leben sind, Denissuschka?« fragte Natalja
Ssergejewna mit bebender Stimme.

»Wer kann das wissen, gnädige Frau! Wenn sie nicht gestern
und vorgestern im Schneesturm umgekommen sind, so werden sie,
wenn das Eis vor ihrer Rückkunft nicht bricht, wohl heil nach Hause
kommen Was das aber für ein grässlicher Sturmwind ist! Gott sei
ihnen gnädig!«

»Dort ist Jemand auf dem Eise!« rief plötzlich die junge Frau
mit heiserer Stimme; sie schien sich zu fürchten und wich einige
Schritte zurück.

Denis blickte aufmerksam hinaus und horchte.

»Nein, Frauchen, es kommt Niemand,« sagte er. »Dort, im Kahn,
sitzt der dumme Petruscha und thut, als ob er rudere. Petruscha! bist
du es?«

»Ich bin es, Grossväterchen!« ertönte eine schwache, krankhafte
Stimme.

»Hast du Schmerzen?«

»Ja, Grossvater, ich kann es kaum noch länger aushalten!«

Dicht am Ufer, halb auf dem Eise, stand ein Kahn. Darin sass
ein hagerer Bursche mit unförmlich langen Armen und Beinen. Das
war der dumme Petruscha. Mit zusammengebissenen Zähnen, am
ganzen Körper zitternd sass er da, blickte in die dunkle Ferne und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 2, S. 42, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-02_n0042.html)