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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 108

Text

DIE INNERE SCHÖNHEIT.
Von Maurice Maeterlinck.
Vom Verfasser autorisirte Uebersetzung von Clara Theumann.

Es gibt nichts auf Erden, das schönheitsgieriger, nichts, das
leichter zu verschönen wäre als eine Seele. Es gibt nichts auf Erden,
das sich natürlicher erhebt und rascher veredelt. Es gibt nichts auf
Erden, das den lauteren und edlen Geboten, die man ertheilt, gewissen-
hafter gehorcht. Es gibt nichts auf Erden, das sich der Macht eines
die anderen überragenden Gedankens bereitwilliger unterwirft. Deshalb
widerstehen auch wenige Seelen hienieden der Herrschaft einer Seele,
die sich frei in Schönheit austönen lässt.

Man könnte wirklich glauben, dass die Schönheit die einzige
Nahrung unserer Seele ist; allerorten sucht sie sie auf, und selbst im
niedrigsten Leben stirbt sie nicht Hungertodes. Es gibt eben keine
Schönheit, die vollständig unbemerkt vorüberginge. Es ist ja möglich,
dass sie immer nur hinter der Schwelle des Bewusstseins auftritt, aber
sie handelt im Dunkel der Nacht ebenso mächtig wie bei Tageshelle.
Sie bringt nur eine weniger greifbare Freude hervor: das ist der
ganze Unterschied. Prüfet die allergewöhnlichsten Menschen, wenn ein
wenig Schönheit ihre Dunkelheit streift. Da sind sie irgendwo alle bei-
sammen und — ohne dass man weiss warum — es scheint, dass ihr
Hauptaugenmerk darauf gerichtet ist, vor Allem die grossen Thüren
des Lebens zu schliessen. Und dennoch hat jeder von ihnen, als er
allein war, mehr als einmal nach den Bedürfnissen seiner Seele gelebt.
Er hat vielleicht geliebt; er hat gewiss gelitten. Auch er hat unab-
weislich »die Töne jener fernen Gegend der Herrlichkeit und der
Schrecken gehört« und hat sich manchen Abend lautlos vor den Ge-
setzen geneigt, die tiefer sind als das Meer. Aber wenn sie beisammen
sind, berauschen sie sich gerne an niedrigen Dingen. Sie haben eine
unbestimmte, seltsame Furcht vor der Schönheit; je zahlreicher sie
sind, desto mehr fürchten sie sich vor ihr, wie sie sich vor dem
Schweigen oder einer zu lauteren Wahrheit fürchten. So wahr ist dies,
dass, wenn einer von ihnen im Laufe des Tages eine heldenhafte
Handlung begangen hätte, er sich bemühen würde, sie durch Unter-
schiebung von niedrigsten Motiven, von Motiven aus der untergeord-
neten Sphäre, der sie selbst alle angehören, zu entschuldigen. Doch
höret: Ein hohes, stolzes Wort ist ausgesprochen worden und hat ge-
wissermassen die Quellen des Lebens wieder eröffnet. Eine Seele hat
es gewagt, sich einen Augenblick so zu zeigen, wie sie in der Liebe,
dem Schmerze, vor dem Tode oder in der Einsamkeit der Sternen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 108, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0108.html)