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nacht ist. Unruhe bemächtigt sich Aller, und die Gesichter lächeln
oder zeigen Erstaunen. Aber habt ihr denn nie in solchen Momenten
gefühlt, mit welch vereinter Kraft alle Seelen bewundern und wie die
schwächste unter ihnen aus ihrem Kerker heraus unsagbar dem Worte
zujubelt, das sie als ihr ähnlich erkannt hat? Sie leben plötzlich in
ihrer ursprünglichen und normalen Atmosphäre wieder auf, und wenn
ihr das Gehör der Engel hättet, würdet ihr sicherlich mächtiges Beifalls-
rauschen in dem Reiche des wunderbaren Lichtes hören, wo sie unter
sich leben. Glaubt ihr nicht, dass, wenn ein ähnliches Wort jeden
Abend ausgesprochen würde, die furchtsamsten Seelen kühner und die
Menschen wahrhafter leben würden? Es muss ein ähnliches Wort nicht
einmal wiederkommen. Es hat etwas Ernstes stattgefunden, das sehr
tiefe Spuren zurücklassen wird. Die Seele, welche dieses Wort aus-
gesprochen hat, wird jeden Abend von ihren Schwestern erkannt
werden, und ihre blosse Gegenwart wird von da an etwas Erhabenes
über die unbedeutendsten Reden verbreiten. Es hat jedenfalls ein
Wechsel stattgefunden, den man nicht näher bestimmen kann. Die
untergeordneten Dinge werden nicht mehr dieselbe ausschliessliche
Kraft haben, und die erschreckten Seelen wissen, dass es irgendwo
eine Zufluchtsstätte gibt. — — —
Es ist ganz gewiss, dass die ursprünglichen und natürlichen Be-
ziehungen von Seele zu Seele Schönheitsbeziehungen sind. Die Schön-
heit ist die einzige Sprache unserer Seelen. Sie verstehen keine andere.
Sie haben kein anderes Leben, sie können nichts Anderes hervor-
bringen, sie können sich für nichts Anderes interessiren. Und deshalb
zollt die unterdrückteste, ja selbst niedrigste Seele — so es zu sagen
gestattet ist, dass es niedrige Seelen gibt — jedem grossen und schönen
Gedanken, jedem Worte, jeder That, die gross und schön sind, unver-
züglich ihren Beifall. Die Seele hat kein Organ, das sie mit einem
anderen Elemente verbindet, und sie kann nur nach der Schönheit
urtheilen. Ihr seht es unaufhörlich in euerem Leben, und ihr selbst,
die ihr mehr denn einmal die Schönheit verleugnet habt, ihr wisset es
ebensogut wie Jene, die sie ohne Unterlass in ihrem Herzen suchen.
Wenn ihr einmal ernstlich ein anderes Wesen braucht, werdet ihr
dann zu dem gehen, der höhnisch gelacht hat, als die Schönheit vor-
überzog? Zu dem, der durch sein Kopfschütteln eine edle That oder
nur ein reines Stieben besudelt hat? Vielleicht wäret ihr damals unter
denen, die ihm beistimmten, aber in dem ernsten Augenblick, wo die
Wahrheit an euere Thüre klopft, werdet ihr euch jenem Anderen zu-
wenden, der sich verneigte und zu lieben verstand. Euere Seele hatte
in ihren Tiefen geurtheilt, und dieses lautlose, unfehlbare Urtheil wird
vielleicht dreissig Jahre nachher an die Oberfläche steigen und euch
zu einer Schwester schicken, in der mehr von euch ist als in euerem
ganzen Selbst, weil sie der Schönheit näher war.
Es gehört so wenig dazu, die Schönheit einer Seele zu er-
muthigen. Es gehört so wenig dazu, die schlafenden Engel zu wecken.
Man braucht sie vielleicht nicht einmal zu wecken — es genügt schon,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 109, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0109.html)