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sie nicht einzuschläfern. Vielleicht ist das Herabsteigen schwerer als
das Sicherheben.
Ist es nicht schwer, dem Meere oder der Nacht gegenüber nur
an gewöhnliche Dinge zu denken? Und welche Seele weiss nicht, dass
sie immer dem Meere und einer ewigen Nacht gegenübersteht? Wenn
wir weniger Furcht vor der Schönheit hätten, würden wir schliesslich
nichts Anderes im Leben finden; denn in Wirklichkeit besteht unter
Allem, was man sieht, nur sie allein. Alle Seelen wissen es, alle Seelen
sind bereit; aber wo sind jene, die ihre Schönheit nicht verbergen?
Und doch muss endlich eine von ihnen »beginnen«. Warum sollen wir
nicht wagen, jene zu sein, die »beginnt«? Alle Anderen sind begierig
um uns herum versammelt wie kleine Kinder vor einem wunderbaren Palast.
Sie drängen sich auf der Schwelle, sie flüstern, sie gucken durch die
Spalten, aber sie trauen sich nicht, die Thüre aufzustossen. Sie warten,
bis jemand Grosser sie ihnen öffnen kommt. Aber dieser Grosse kommt
fast nie.
Und was gehört denn dazu, dieser Grosse, sehnlichst Erhoffte zu
werden? Fast nichts. Die Seelen sind nicht anspruchsvoll. Ein fast
schöner Gedanke, den ihr nicht aussprecht, und den ihr in einem
gewissen Augenblicke nährt, durchleuchtet euch wie ein durchsichtiges
Gefäss. Die Seelen sehen ihn und werden euch ganz anders auf-
nehmen, als wenn ihr euren Nächsten zu hintergehen beabsichtigt
hättet. Man wundert sich, wenn manche Menschen sagen, sie hätten
nie eine wirkliche Hässlichkeit begegnet, und sie wüssten noch nicht,
was eine niedrige Seele sei. Aber es ist gar nicht überraschend. Sie
hatten eben »begonnen«. Weil sie selbst vor Allem schön waren,
zogen sie alle vorüberwandelnde Schönheit zu sich, wie ein Leucht-
thurm die Schiffe aus allen vier Weltgegenden zu sich ruft. So gibt
es z. B. Menschen, die sich über die Frauen beklagen und nicht daran
denken, dass bei der ersten Begegnung ein einziges Wort, ein einziger
Gedanke, der alles Schöne und Tiefe leugnet, genügt, um ihre
Existenz in der Seele dieser Frau für immer zu vergiften. »Ich
habe,« sagte mir ein Weiser, »nie eine Frau gekannt, die mir nicht
etwas Grosses entgegengebracht hatte.« Vor Allem war er gross, das
war sein Geheimniss.
Nur eines verzeiht eine Seele nie: wenn sie eine hässliche That,
einen hässlichen Gedanken, ein hässliches Wort sehen, streifen und
theilen musste. Sie kann es nicht verzeihen, denn verzeihen hiesse
hier, sich selbst verleugnen. Und heisst nicht dennoch klug, stark, ge-
schickt sein für die meisten Menschen: die Seele aus ihrem Leben
entfernen, heisst es nicht: sorgfältig Alle zu tiefen Bestrebungen bei-
seite schieben? So handeln sie selbst in der Liebe; und deshalb hat
die Frau, die der Wahrheit noch viel näher ist, fast nie einen Augen-
blick wahrhaften Lebens mit ihnen gemeinsam. Man könnte glauben,
sie haben Furcht, ihre Seele zu treffen; sorgfältig halten sie sich
tausend Meilen weit von ihrer Schönheit. Man sollte im Gegentheil
bemüht sein, vor sich einherzuschreiten. Denket oder saget jetzt Dinge,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 110, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0110.html)