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die zu schön sind, um wahr zu sein; sie werden morgen wahr sein,
wenn ihr versucht habt, sie heute zu denken oder zu sagen. Bestreben
wir uns, schöner zu sein, als wir selbst sind; wir werden die Kräfte
unserer Seele nicht übersteigen. Man irrt sich nicht, wenn es sich um
lautlose, verborgene Schönheit handelt. Uebrigens ist es ganz neben-
sächlich, ob ein Wesen sich irrt oder nicht, wenn nur die innere
Quelle rein und klar ist. Aber wer, wer denn unternimmt nur die
geringste Bemühung, die nicht zu sehen ist? Und dennoch sind wir
auf einem Gebiete voller Erwartung, wo Alles erfolgreich ist. Alle
Thüren sind offen; man braucht sie nur aufzustossen, und der Palast
ist voll gefesselter Königinnen. Oft genügt ein einziges Wort, um
ganze Berge von Unflath hinwegzufegen. Warum sollen wir nicht den
Muth haben, einer niedrigen Frage eine edle Antwort entgegenzustellen?
Glaubt ihr, dass sie vollkommen unbemerkt vorüberzieht, oder dass
sie nur Erstaunen erweckt? Glaubt ihr nicht, dass sich dies mehr dem
natürlichen Dialog zwischen zwei Seelen nähert? Man weiss gar nicht,
wie sehr das ermuthigt oder befreit. Sogar derjenige, der diese Ant-
wort zurückweist, macht wider Willen einen Schritt seiner eigenen
Schönheit zu. Etwas Schönes stirbt nicht, ohne etwas geläutert zu
haben. Es gibt keine Schönheit, die verloren ginge. Man muss sich
nicht fürchten, die Strassen damit zu besäen. Sie wird Wochen, Jahre
dort bleiben, aber sie. wird sich ebensowenig auflösen wie der
Diamant, und schliesslich wird Jemand vorbeikommen, wird sie strahlen
sehen, sie aufheben und glücklich von dannen gehen. Warum wollt
ihr denn ein schönes, hehres Wort zurückhalten, weil ihr glaubt, dass
die Anderen euch nicht verstehen werden? Warum denn im Entstehen
schon einen Moment erhabener Güte fesseln, weil ihr denkt, dass eure
Umgebung ihn nicht zu nützen wissen wird? Warum denn den
instinctiven Trieb eurer Seele zu den Höhen zurückdrängen, weil ihr
unter den Menschen des Thales weilt? Verliert ein tiefes Gefühl seine
Thatkraft in der Dunkelheit? Hat ein Blinder keine anderen Mittel als
die Augen, um Jene, die ihn lieben, von Jenen, die ihn nicht lieben,
zu unterscheiden? Muss die Schönheit, um zu bestehen, erst verstanden
werden, und glaubt ihr nicht, dass in jedem Menschen etwas liegt, das
mehr versteht, als er zu verstehen scheint, mehr auch, als er zu ver-
stehen glaubt? »Selbst den Niedrigsten,« sagte mir einst das höchste
Wesen, das ich zu kennen das Glück hatte, »selbst den Elendsten
wagte ich nie, etwas Hässliches oder Mittelmässiges zur Antwort zu
geben.« Und ich habe gesehen, dass dieses Wesen, das ich lange in
seinem Leben verfolgt habe, über die dunkelsten, verschlossensten, ver-
blendetsten, selbst widerspenstigsten Seelen eine unerklärliche Macht
hatte. Denn Niemandes Lippen können die Macht einer Seele be-
schreiben, die sich bemüht, in einer Atmosphäre der Schönheit zu
leben, und die wirklich schön ist in sich selbst. Und macht nicht
übrigens die Qualität dieser thätigen Schönheit das Leben elend
oder göttlich?
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 111, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0111.html)