Text
Es ist möglich, dass, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen
könnten, wir entdecken würden, dass die Macht einiger schöner Seelen
die anderen im Leben hält und stützt. Ist nicht die Vorstellung, die
Jeder von einzelnen auserwählten Wesen hat, die einzige lebendige und
segensreiche Moral? Aber welche Rolle hat in dieser Vorstellung die
erwählte Seele und welche die wählende? Vermischt sich das nicht
sehr geheimnissvoll, und enthält diese ideale Moral nicht Tiefen, an
welche die Moral der herrlichsten Bücher nicht einmal streift? Es be-
steht hier ein Einfluss von einer Ausdehnung, deren Grenzen schwer
zu bestimmen sind, eine Kraftquelle, an der Jeder von uns mehr als
einmal des Tages sich stärkt. Vermindert ein Schwanken eines jener
Wesen, die ihr als vollkommen betrachtet und in der Schönheitssphäre
liebt, nicht sofort euer Vertrauen in die allgemeine Grosse der Dinge
und eure Bewunderung für dieselben?
Und andererseits glaube ich, dass nichts auf der Welt eine Seele
unmerklicher, natürlicher verschönt als die Gewissheit, dass irgendwo
nicht fern von ihr ein reines und schönes Wesen lebt, das sie ohne
Hintergedanken lieben kann. Wenn sie sich wirklich einem solchen
Wesen genähert hat, hört die Schönheit auf, eine schöne todte Sache
zu sein, die man den Fremden zeigt; sie nimmt plötzlich kraftvolles
Leben an, und ihre Thätigkeit wird so natürlich, dass nichts ihr mehr
widersteht. Darum denket daran; man ist nicht allein, und die Guten
müssen wachen.
Plotinus schliesst im achten Buch der fünften Enneade, nachdem
er von der »übersinnlichen, d. h. göttlichen Schönheit« gesprochen hat,
folgendermassen: »Wir sind schön, wenn wir uns selbst angehören,
und hässlich, wenn wir uns zu einer untergeordneten Natur herab-
lassen; wir sind ferner schön, wenn wir uns kennen, und hässlich,
wenn wir uns nicht kennen.« Nun denn! Vergessen wir es nicht; wir
sind hier auf Höhen, wo »sich nicht kennen« nicht ganz einfach
heisst, nicht wissen, was in uns vorgeht, wenn wir verliebt oder eifer-
süchtig, schüchtern oder neidisch, glücklich oder unglücklich sind.
»Sich nicht kennen« heisst, da, wo wir sind, nicht wissen, was Gött-
liches in den Menschen vorgeht. Wir sind hässlich, wenn wir uns von
den Göttern, die in uns sind, entfernen, und werden schön in dem
Masse, als wir sie entdecken. Aber wir werden das Göttliche in den
Anderen erst finden, wenn wir ihnen das Göttliche in uns selbst zeigen.
Der eine der Götter muss dem anderen ein Zeichen geben, und alle
Götter antworten auf den unmerklichsten Wink. Man kann es nicht
genug wiederholen; es bedarf nur einer fast unsichtbaren Spalte, und
die Wasser des Himmels dringen in eine Seele. Alle Becher streben
der unbekannten Quelle zu; wir sind auf einem Gebiet, wo man nur
an die Schönheit denkt! Wenn man einen Engel fragen würde, was
unsere Seelen im Schatten thun, würde er, glaube ich, nachdem er
lange Jahre zugesehen hat, antworten: Weit mehr als das, was sie in
den Augen der Menschen zu thun scheinen, »verwandeln sie die kleinen
Dinge, die man ihnen reicht, in Schönheit«. Ach, ich muss gestehen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 112, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0112.html)