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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 113

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DIE INNERE SCHÖNHEIT. 113

die menschliche Seele hat einen merkwürdigen Muth! Sie ergibt sich
darein, ein ganzes Leben in der Dunkelheit zu arbeiten, wohin sie die
meisten verweisen und wo Niemand mit ihr spricht. Sie thut dort, was
sie kann, ohne sich zu beklagen, und bemüht sich, den Kieselsteinen,
die man ihr zuwirft, jenen Kern ewigen Lichtes zu entreissen, den sie
vielleicht enthalten. Und während sie sich dermassen bestrebt, harrt
sie des Augenblickes, wo sie einer geliebteren oder zufällig näher-
stehenden Schwester die Schätze zeigen kann, die sie emsig aufgehäuft
hat. Aber es gibt tausende von Existenzen, wo keine Schwester sie
besucht und wo das Leben sie so schüchtern gemacht hat, dass sie
wortlos von dannen geht, ohne sich ein einzigesmal mit den beschei-
densten Juwelen ihrer bescheidenen Krone schmücken zu können. — —
Und trotz Allem wacht sie über Alles in ihrem unsichtbaren Himmel.
Sie winkt, sie liebt, sie bewundert, sie zieht an, sie stösst ab. Bei
jedem neuen Ereigniss steigt sie an die Oberfläche in der Erwartung,
dass man sie nie wieder hinabzusteigen zwingen wird, weil sie für
lästig und toll gilt. Sie irrt wie Kassandra in der Tempelhalle der
Atriden. Sie sagt dort Worte, deren Wahrheit sogar nur Schatten ist,
und Niemand hört ihr zu. Wenn wir die Augen aufschlagen, erwartet
sie einen Sonnenstrahl oder einen Sternenschimmer, aus dem sie einen
Gedanken oder ein unbewusstes und sehr reines Streben machen will.
Und wenn unsere Augen ihr nichts bringen, wird sie ihre klägliche
Enttäuschung in etwas Unaussprechliches zu verwandeln wissen, das
sie bis zum Tode verbergen wird. Wenn wir lieben, berauscht sie sich
hinter der verflossenen Thüre am Lichte und verliert, indem sie hofft,
nicht ihre Zeit; dieses Licht, das durch die Ritzen der Thüre sickert,
wird für sie Güte, Schönheit oder Wahrheit. Aber wenn die Thüre
sich nicht öffnet (und in wie vielen Existenzen bleibt sie geschlossen?),
kehrt sie in ihr Gefängniss zurück, und ihre Trauer wird eine höhere
Wahrheit sein, als man sie je sehen wird, denn wir sind auf dem Ge-
biete der unbeschreiblichen Umwandlungen; was nicht auf dieser Seite
der Thüre entsteht, ist nicht verloren, aber es mengt sich nie zu diesem
Leben. — — — —

Ich sagte oben, dass die Seele die kleinen Dinge, die man ihr
reicht, in Schönheit verwandelt. Es scheint sogar, je mehr man daran
denkt, dass sie keinen anderen Wesensweck hat und dass sie ihre ganze
Thätigkeit darauf verwendet, in uns einen unbeschreiblichen Schönheits-
schätz anzusammeln. Würde sie nicht Alles in Schönheit verwandeln,
wenn wir nicht unaufhörlich die hartnäckige Arbeit unserer Seele stören
würden? Wird nicht das Böse selbst kostbar, wenn sie aus ihm den
herrlichen Diamant der Reue hervorgezaubert hat? Werden die Un-
gerechtigkeiten, die ihr begangen habt, und die Thränen, die ihr fliessen
gemacht, nicht auch schliesslich in eurer Seele Licht und Liebe? Habt
ihr je in euch selbst dieses Reich läuternder Flammen geschaut? Man
hat euch heute ein grosses Unrecht gethan; die Geberden waren klein,
die Handlung niedrig und kläglich, und ihr habt hässlich geweint.
Werft aber einige Jahre später einen Blick in eure Seele und sagt mir,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 113, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0113.html)