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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 114

Text

114 MAETERLINCK.

ob ihr nicht in der Erinnerung an diese That etwas seht, was schon
reiner ist als ein Gedanken, eine Ungewisse, unnennbare Macht, die
nichts gemein hat mit den gewöhnlichen Mächten, die Quelle eines
»anderen Lebens«, an welcher ihr trinken könnt bis an das Ende eurer
Tage, ohne sie je zu erschöpfen. Und doch habt ihr der unermüdlichen
Königin nicht geholfen, ihr dachtet an etwas Anderes, während die
That sich in der Stille eures Wesens ohne euer Wissen läuterte und
das kostbare Wasser jenes grossen Wahrheits- und Schönheitsbeckens
vermehrte, das nicht so aufgewühlt ist, wie das weniger tiefe Becken
der wahren und schönen Gedanken, das aber für immer vor dem Hauch
des Lebens bewahrt bleibt.

»Es gibt nicht eine Thatsache, nicht ein Ereigniss in unserem
Leben,« sagt Emerson, »das nicht früher oder später seine träge, dem
Irdischen anheftende Form verlieren und uns nicht in Erstaunen setzen
wird durch seinen Aufflug aus unserem Körper in die Regionen des
Feuerhimmels.« Das ist wahrer noch, als Emerson es vielleicht voraus-
gesehen hat, denn je weiter wir vorschreiten auf diesem Gebiet, desto
göttlichere Sphären entdecken wir.

Man weiss nicht genug, was diese lautlose Thätigkeit der uns
umgebenden Seelen ist. Ihr habt ein reines Wort zu einem Wesen
gesagt, das es nicht verstanden hat. Ihr habt es vergessen geglaubt
und dachtet nicht mehr daran. Eines Tages aber kommt das Wort in
unerhörten Verwandlungen wieder an die Oberfläche, und man kann die
unerwarteten Früchte sehen, die es in der Dunkelheit getragen hat;
dann verfällt wieder Alles in Schweigen. Aber was liegt daran? Man
erfährt, dass nichts in einer Seele verloren geht, und dass die kleinsten
auch ihre Augenblicke der Herrlichkeit haben. Ja, es ist unzweifelhaft;
die Unglücklichsten und seelisch Aermsten selbst haben ohne ihr Wissen
im tiefsten Grunde ihres Wesens einen Schönheitsschatz, der nie ver-
armen wird. Es handelt sich nur um die Gewohnheit, darin schöpfen
zu können. Die Schönheit darf nicht ein im Leben vereinzelt vor-
kommendes Fest sein, sie muss ein tägliches Fest werden. Es gehört
nicht viel dazu, um zu Jenen zugelassen zu werden, »in deren Augen
sich die blumenreiche Erde und die strahlenden Himmel nicht mehr
in unendlich kleinen Theilchen, sondern in erhabenen Massen wieder-
spiegelt,« und ich spreche von Blumen und Himmeln, die dauerhafter
und reiner als die sinnlich wahrnehmbaren sind. Es gibt tausend Ca-
näle, durch welche die Schönheit unserer Seele bis zu unserem Ge-
danken gelangen kann, und so ein Canal ist namentlich der wunder-
bare und wichtige Canal der Liebe.

Finden sich nicht in der Liebe die reinsten Schönheitselemente,
die wir der Seele bieten können? Es gibt Wesen, die sich so in der
Schönheit lieben. Sich so lieben heisst, nach und nach den Sinn für
das Hässliche verlieren, heisst, blind werden für alle kleinen Dinge
und nur mehr die Frische und Jungfräulichkeit der demüthigsten Seelen
sehen. So lieben heisst, nicht einmal mehr verzeihen müssen. So lieben
heisst, nichts mehr verbergen können, weil es nichts mehr gibt, das

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 114, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0114.html)