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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 115

Text

DIE INNERE SCHÖNHEIT. 115

die immer gegenwärtige Seele nicht in Schönheit verwandelt. So lieben
heisst, das Schlechte nur mehr sehen, um die Nachsicht zu läutern
und um zu lernen, dass der Sünder und seine Sünde nicht eins sind.
So lieben heisst, alle uns Umgebenden in uns auf Höhen erheben, wo
sie nicht mehr fehlen können, auf Höhen, von wo aus eine niedrige
Handlung zur Erde fällt und unbewusst die kostbare Seele ausliefert.
So lieben heisst, ohne unser Wissen die kleinsten Absichten, die um
uns herum wachen, in unbegrenzte Regungen verwandeln. So lieben
heisst, Alles, was es Schönes gibt auf Erden, im Himmel und in der
Seele, zum Feste der Liebe rufen. So lieben heisst, vor einem Wesen
so wie vor Gott existiren. So lieben heisst, mit der geringfügigsten
Geberde die Gegenwart seiner Seele und aller ihrer Schätze herauf-
beschwören. Es bedarf nicht mehr des Todes, des Unglücks oder der
Thränen, damit die Seele erscheine; ein Lächeln genügt. So lieben
heisst, die Wahrheit im Glücke ebenso tief erschauen als einige Helden
sie im Lichte der grossen Schmerzen gesehen haben. So lieben heisst,
die Schönheit, die sich in Liebe verwandelt, nicht mehr unterscheiden
von der Liebe, die sich in Schönheit verwandelt. So lieben heisst,
nicht mehr sagen können, wo der Strahl eines Sternes erblasst, und
wo der Kuss eines gemeinsamen Gedankens beginnt. So lieben heisst,
Gott so nahe kommen, dass die Engel einen besitzen. So lieben heisst,
gemeinsam dieselbe Seele verschönen, welche nach und nach der
»einzige Engel« wird, von dem Swedenborg spricht. So lieben heisst,
täglich eine neue Schönheit in diesem geheimnissvollen Engel entdecken,
und vereint in immer höher, immer lebendiger werdender Güte einher-
schreiten. — Denn es gibt auch eine todte Güte, die nur aus Ver-
gangenheit gewoben ist; aber die wirkliche Liebe macht die Ver-
gangenheit unnütz und schafft bei ihrem Nahen eine unerschöpfliche
Zukunft an Güte ohne Unglück und ohne Thränen. So lieben heisst,
seine Seele befreien und ebenso schön werden wie die befreite Seele.

»Wenn du bei der Rührung, die dir dieses Schauspiel verursachen
muss,« sagt über ähnliche Dinge der grosse Plotinus, der von allen mir
bekannten Geistern sich am meisten der Göttlichkeit näherte, »wenn
du bei der Rührung, die dir dieses Schauspiel verursachen muss, nicht
verkündest, dass es schön ist, und wenn du dann, deinen Blick in dich
selbst senkend, nicht den Reiz der Schönheit empfindest, dann wirst du in
ähnlicher Stimmung vergebens die übersinnliche Schönheit suchen; denn
du würdest sie dann nur im Unreinen und Hässlichen suchen.« Darum
sind die Worte, die wir hier gesprochen, nicht an alle Menschen ge-
richtet. Aber wenn du in dir die Schönheit erkannt hast, dann erhebe
dich zur Erinnerung an die übersinnliche Schönheit. — — — — —


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 115, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0115.html)