Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 107
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erfasst wird. Mit grausamem Zauber hob er besonders die Handlungen
des Entsetzens, den Zusammenbruch des Willens hervor. Seine
Frauengestalten besassen eine ungeheuere Gelehrsamkeit, durchdrungen
von dem Nebel der deutschen Philosophie und den kabbalistischen Ge-
heimnissen des alten Orients, und Alle hatten sie Knabenbrüste und
waren geschlechtslos. Während aller dieser Genüsse wird der
Herzog immer häufiger von starken nervösen Ohnmachtsanfällen heim-
gesucht. Nachdem er in seinen Gedanken noch einmal eine Reise nach
England gemacht hatte, die ihn aber in der That nur bis zu den
Nordhäfen von Paris führte, wo er so viel englisches Wesen sah, dass
er desselben überdrüssig wurde, brach er gänzlich erschöpft zusammen.
Der Arzt verordnete ihm Rückkehr aus der Einsamkeit in die Stadt,
Zerstreuung unter Menschen! Der Herzog gerieth in Verzweiflung über
diesen Zwang, den man seiner aristokratischen, einsamen Natur anthun
will. Schon längst hat er in den occultistischen Schriften katholischer
Priester eine seltsame Erbauung gefunden. Der Dichter lässt uns in
Zweifel, ob der Herzog in ein Kloster gehen wird. Er schildert am
Schluss nur die Sehnsucht seines Helden nach diesen neuen seelischen
Genüssen.
Erwähnen will ich noch, dass der Dichter in einigen Capiteln
mit tiefer Psychologie das Sexualempfinden seines Helden schildert.
Die Phantasie Huysmans’ muthet uns oft krankhaft an. Diese
Ueberfülle der Phantasie, die auch in den widersinnigsten Farben-
zusammenstellungen, in sensationellen Empfindungen und mystischen
Grübeleien seitenlang zu schwelgen vermag, verräth eben, dass auch
Huysmans’ Poesie decadente Kunst ist. Andererseits beabsichtigt der
Dichter — dies geht z. B. aus den citirten Stellen hervor — durch
die Schilderung der grotesken Einfälle seines Helden häufig eine
satyrische Wirkung. Huysmans ist ein ungemein geistreicher Künstler,
der hier durch die Grossartigkeit seiner Phantasie bezaubert, dort die
Abgründe der Menschenseele mit rücksichtslosester Wahrheitsliebe ent-
hüllt. Mit feiner Ironie schildert er den Verfall einer Cultur. An ein
neues Ideal wagt sein Skepticismus nicht zu denken. Er gehört zu den-
jenigen, welche ihrer Zeit den Spiegel vorhalten. Aus seinen phan-
tastischen Schilderungen leuchtet oft mehr sittlicher Ernst als aus den
Phrasen eines Moralpredigers. Mit einer grossen Beharrlichkeit verfolgt
er seine künstlerischen Ziele, und sein selbstständiges Schaffen erhebt
ihn unter die kleine Schaar der wirklich ernst strebenden und ori-
ginellen Künstler des modernen Frankreich.
Der Uebersetzung ist ein Porträt Huysmans’ beigegeben. Seltsam
hebt sich dieser eckige Kopf aus der schwarzen Umrahmung. Gleich-
giltig sehen uns diese Augen an, die Stirne ist voller kleiner, scharfer
Falten, wie sie ewiges Grübeln und Sinnen erzeugen. Wenn wir die
Physiognomie länger betrachten, ist es, als wenn eine tiefe Melancholie
den leisen Spott in den Augen verdunkelt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 107, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0107.html)