Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 148
Text
Von Stefan Grossmann.
»Ein Buch ist nur das Zeichen eines
Menschen, der sich stetig vervollkommnen
will. Was aber soll man zu einem Menschen
sagen, der sich nur damit beschäftigt,
seine Bücher zu vervollkommnen? Er
nimmt die Folge für die Ursache und
bringt sich selbst diesem Fetischdienst
zum Opfer.«
Camille Mauclair .
I.Es sind nun beinahe schon zwei Jahrzehnte, dass sich die junge
Generation der Schriftsteller um die Schaffung eines neuen Styles be-
müht. So gut, wie die Zeit des akademischen Styles in der Malerei
abgelaufen war, so gut war die Epoche des nichts als nur correcten
Styles in der Schriftstellerei beendigt. Gustav Freytag war nicht nur
seiner socialen Rückständigkeit, seiner psychologischen Einfalt wegen
begraben, es fand sich auch kein Publicum mehr für Romane, die in
einem so phlegmatischen Deutsch geschrieben waren, dass sich der
Autor beispielsweise erlauben durfte, ganze Capitel in derselben stylisti-
schen Melodie einer dreitheiligen Satzverbindung auszudrücken. Fast
Jeder von denen, die heute 30 Jahre und darüber sind, hat seine
stylistischen Experimente gemacht, und so kommt es, dass heutzutage
ein junger Mensch, der auffallen will, nichts Anderes zu thun braucht,
als die Resultate dieser Experimente durcheinander zu rütteln und zu
mischen. Nichts ist billiger, als sich auf diese Weise einen originalen
Styl anzuschaffen.
Der erste Experimentmacher vor uns war Gottfried Keller. Er
war als Lyriker ein Künstler, als Epiker ein Chronist mit grossen
Gedanken. Keller war wohl mehr als ein Lyriker, denn er war als
Künstler mehr als subjectiv, er besass jene platonische Synthese des
Epikers, vermöge welcher der Dichter auf sein Thema herabsieht und
es übersieht wie eine Landkarte. Aber dieser Dichter ist vielleicht zu
weise und damit zu schwer geworden. Seine Romane sind ihm wohl
unter der Hand viel weitschweifiger geworden, als er geplant hatte.
Die blanke Lebensweisheit dringt ihnen aus allen Poren. Vielleicht
gehört dieser Weise nunmehr, wo die Wissenschaft — trotz ihrer
theilweisen Exactheit — wieder zur natürlichen Gaya scienca wurde,
in jene Gattung philosophischer Schöngeister, welche die Wissenschaft
vom inneren Menschen um ein Geringes zu abstract intuitiv erfassen,
als dass es Poesie, verklärtes Leben sein könnte. Keller’s Weisheit
ist viel zu vorspringend, zu offenkundig, zu sehr »directe Rede«, zu
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 148, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0148.html)