Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 149
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wenig Action, als dass es Künstlerweisheit wäre. Man vergleiche mit
den Romanen Keller’s jene von Jonas Lie. Wie viel indirecte, concrete,
in Leben und Action umgesetzte Weisheit enthalten dessen
letzte Bücher. Aber monologisirend, redselig wird Lie niemals. Ein
Künstler ist keine Gouvernante oder doch wenigstens die unbemerk-
barste! Keller stand an der Grenze der Poesie, und er war sich dieser
Grenzstellung vermuthlich sehr bewusst. Denn was ihm an innerer Activität
und Lebendigkeit fehlte, das stellte sich auch in seinen Werken als ein
Plus an Reflexion und ein Minus an poetischer Action ein — und er
suchte dieses Minus gutzumachen durch eine Fülle stylistischer Reize.
Keller’s Styl ist voll kleiner Kunst und Kunststücke, voll einfliessender
Bilder und Metapher. Er freut sich am frischen Glanze selbstgeprägter
Worte, er liebt die Reinheit unverbrauchter Wendungen. Keller kokettirt
mit den barocken Zierlichkeiten seines Styls. Aber ist diese Ueber-
häufung mit stylistischen Zierlichkeiten nicht gedacht als Aequivalent
für die mangelnde künstlerische Einheitlichkeit dieses amüsantesten
aller pädagogischen Schriftsteller? Der Keller’sche Styl will über
das Wesen dieses schwerfälligen Künstlers hinwegtäuschen. Ein be-
geisterter und geistreicher Schöngeist will sich vermittelst eines künst-
lichen Styls das Aussehen eines Künstlers geben.
Keller’s Schriftlichkeit — man kann schwerlich Keller’sche Romane
vorlesen hören, ohne über ihre stylistischen Geziertheiten lächeln, sagen
wir: lächeln zu müssen — hatte unbedingt auch ihre wohlthätigen
Folgen. In Folge der Zeitungsschreiberei verringert sich und ver-
schlechtert sich der Wortschatz eines Volkes. Man sollte einmal eine
Statistik der im Journalismus verwertheten Worte anlegen, man würde
bemerken, dass der Wortschatz des Journalismus kein grösserer ist als
etwa der des Kaufmannstandes. Nur besteht zwischen beiden der
Unterschied, dass im Journalismus oftmals einzelne Worte, von stylisti-
schen Autoritäten lancirt, plötzlich auftauchen und dann eine Zeit
lang epidemisch grassiren. So hatten wir Wiener voriges Jahr das Ver-
gnügen, dass unsere Journalisten die Worte »königlich«, »Gnade«, »er-
laucht« entdeckten und in ihren schmierigen Ergüssen bis zum Ueber-
druss darauf herumritten.
Keller ist einer jener Autoren, welche dieser drohenden Ver-
armung unserer Sprache entgegengewirkt haben. Er hat auf diesem Terrain
das Verdienst, eine Reihe von altdeutschen Wendungen und Worten,
die unbenutzt, vergessen, altmodisch in irgend einer versteckten Epoche
lagen, heraufgeholt und wieder in Umsatz gebracht zu haben.
Gleichzeitig mit dieser Blüthe des Keller’schen Styles und seiner
Wunderlichkeiten begann man in Deutschland wieder emsiger französi-
sche Literatur zu lesen. Und es ist eine Thatsache, was Friedrich
Nietzsche einmal erwähnt, dass alle Deutschen, die ein ordentliches
Deutsch schreiben, ihre stylistische Klarheit und Präcision, ihren Schliff
und ihre Schärfe bei den Franzosen geholt haben. Die französische
Sprache ist auch die weitaus correctere, die präcisere und logischere.
Vielleicht darf man mit Berücksichtigung der Stimmungsatmosphäre,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 149, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0149.html)