Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 150

Reflexionen über deutschen Stil (Grossmann, Stefan)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 150

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150 GROSSMANN.

welche ein Correlat der deutschen Umständlichkeit ist, sagen: die
französische Sprache ist eine logische, die deutsche eine psychologi-
sche Sprache. Eine Reihe von französischen Gebräuchen wurde ins
Deutsche eingeführt. Auch dieses ins Deutsche übertragene Französisch
war präcise, aber es war kalt, leblos, keiner ausser dem Erfinder
rührte daran. So z. B. machte ein Wiener Stylkünstler lange den
Versuch, gewisse französische Genitive bei uns einzubürgern. Er sprach
nur von den »Werken des Goethe«, den »Torten des Sacher« u. s. w.
Aber Niemand machte diese Manierirtheiten mit. Schliesslich hat er
seine alten Stylmätzchen seinen Schülern hingeworfen, die stets wie
hungrige Hunde an diesen von ihm fortgeschleuderten Problemen
nagen.

Vor ungefähr zehn Jahren kam in Deutschland der stylistische
Impressionismus auf. Man begründete ihn sehr philosopisch: »Wie die
Dinge sind, kann man nicht vollständig schildern. Dies führt nur zu
endlosen Umständlichkeiten. Man kann nur ihre bedeutendsten Er-
scheinungssymptome wiedergeben.« Freilich, die Illusion dieser Er-
scheinungen wollte man mit allen Mitteln hervorrufen, z. B. unter dem
Einfluss Richard Wagner’s mit phonetischen. Man erinnerte an die
Duprel’sche Hypothese vom Zusammenhang der Vocaltöne mit den
Elementarfarben. Gleichzeitig suchte man die Satzform zu verschleiern,
zu unterdrücken. Die Gegenstände schienen plastischer, wenn ihnen
der akademische Hintergrund des Satzgefüges genommen war. Und
der Impressionismus hatte nur ein Gesetz: Plastik! Anschaulichkeit!
Es soll z. B. von einer Terrasse die Rede sein, auf welcher ein Tisch
und drei Stühle stehen. Sicher ist die eindringlichste Art der Dar-
stellung die impressionistische: »Eine breite, helle Terrasse, in ihrer
Mitte ein Tisch und drei Stühle.« Aber die Frage war schliesslich
nicht mehr: »Ist der Impressionismus die eindringlichste Darstellungs-
form?«, sie lag vielmehr so: »Entspricht diese constante Eindringlich-
keit unserem Nervensystem? Wird diese constante Eindringlichkeit nicht
zur Aufdringlichkeit? Ermüdet nicht diese angespannte Eindringlich-
keit? Soll nicht die impressionistische Darstellungs-
weise aufgespart bleiben für die lebendigsten Momente
einer Dichtung

II.

Man kann sich, wenn man will, für die verzierte Behaglichkeit
des Keller’schen Styles, man kann sich für die Imitationen des französi-
schen Styles oder für die Prägnanz des Impressionismus entscheiden.
Das wird eine Frage des Temperamentes, des Nervensystems, der
Weltanschauung sein. Sicher aber ist, dass niemals ein guter
Schriftsteller sich zuerst einen originalen Styl und
dann erst eine originale Weltanschauung erworben hat
.
Die beiden grössten Stylisten Deutschlands sind gleichzeitig seine
tiefsten Geister gewesen. Ihr gutes Deutsch haben sie gefunden, so

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 150, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0150.html)