Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 153

Reflexionen über deutschen Stil (Grossmann, Stefan)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 153

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REFLEXIONEN ÜBER DEUTSCHEN STYL. 153

Vor einigen Jahren veranstaltete ein Wiener Stylkünstler Interviews
über den Antisemitismus. Diese Aufsätze schillerten in hundert Stylen.
Jeder Artikel war ein anderes Experiment. Plötzlich leugnete ein In-
terviewter die Richtigkeit einer Unterredung. Der Interviewer, in seiner
schriftstellerischen Rechtschaffenheit verletzt, widersprach in erregtem
Ton. Da zeigte sich plötzlich etwas sehr Amüsantes: In dem Moment,
wo der Interviewer in Erregung gerathen war, liess er alle Stylkünste
bei Seite und schrieb in einem ausgezeichneten, einfachen, natürlichen
Deutsch. Auf eine andere Weise ist keinem Stylkünstler beizukommen.
Man muss sie zur Probe in natürliche Erregung versetzen. Manche
Stylisten gehen ja in ihren Fälschungen so weit, dass sie es sich auch
erlauben, in ihrer ausgeklügelt überladenen Manier zu sprechen. — — —
Ehe sie nicht verwundet werden, geben sie keinen natürlichen Laut
von sich!


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 153, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0153.html)