Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 152
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Fragen zu dauernden Problemen werden, es sind Symptome seiner
Decadenz. Ein solcher wird aber auch im Gespräch und in der Rede
styllos, d. h. eintönig, heiser oder voll affectirter Betonung sein.
Dagegen habe ich wiederholt Briefe und Mittheilungen von Leuten
gesehen, welche nicht einmal die simpelsten Regeln der Orthographie
innehatten und die ein vorzügliches, derbes und bilderreiches Deutsch
schrieben, wie es nur die Urenkel Luther’s znstande bringen konnten.
Ein verstorbener Poet, Anton Smital, der ein Liebhaber aller ver-
borgenen Menschlichkeiten war, hat einmal an der Hand alter Volks-
lieder, die er irgendwo in Hernals oder Favoriten von Dienstmädeln
oder Arbeitern singen hörte, nachgewiesen, dass im Volke jahrhunderte-
alte Lieder sich erhalten. Freilich nicht in jener »Kruste über dem
Volk«, welche Publicum heisst, auch nicht in dem »Volke« der Ver-
sammlungen, sondern in jener unbekannten, dunkeln Masse, die wir
Alle noch nicht kennen und die uns unverständlich und unbeleuchtet
erscheint wie jede andere Urwaldgegend. Ich behaupte, dass das
Deutsch dieser Leute noch jenes prächtige, altfränkische Deutsch des
XVII. und XVIII. Jahrhunderts ist und dass also der »Styl« dieser
Menschen hundertmal besser, stärker, symbolischer ist, als unsere
heutige, langwierige und leere Sprache, die mit jedem Tage schlechter
wird. Man lese nur zuweilen jene Briefe nach, die in Gerichtsverhand-
lungen verlesen werden. Oder man höre das folgende Gedicht, welches
noch voriges Jahr an einer Wand des Polizeigefängnisses in Friedrich-
hagen bei Berlin zu lesen war:
Fordre niemals mein Schicksal zu hören,
Nicht zu nennen meinen Namen in der Welt,
Denn ich bin, ach, so jung schon verführet,
Denn ich bin nur ein Mädchen für Geld.
Ja, da thut mir die Schwester wohl schreiben:
»Ach, Schwester, ach, kehr’ doch zurück!
Deine Mutter liegt sterbend im Bette
Und beweint ihr unglücklich Kind.«
Darauf that ich der Schwester denn schreiben:
»Ach, Schwester, ich kehr’ nie zurück.
Meine Unschuld, die hab ich verkuppelt,
In der Heimat da blüht mir kein Glück.«
In Hamburg, da bin ich gewesen,
In Sammt und Seide gehüllt.
Meinen Namen, den darf ich nicht nennen,
Denn ich bin nur ein Mädchen für Geld.
Ist dieses Gedicht nicht viel eher alte, deutsche Volkspoesie, wie
jene modernen Imitationen des alten Volksliedes, die neuerlich in der
kostbarsten Ausstattung auf den Markt geworfen werden? Alle elemen-
taren Aeusserungen einer Seele haben Styl, deshalb sind alle Styl-
fragen nur jenen innerlich vertrockneten und versteinerten Grossstadt-
menschen zum Problem geworden.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 152, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0152.html)