Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 158

Deutsches Volkstheater Cantacuzène, »La steppe«

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 158

Text

NOTIZEN.

Deutsches Volkstheater.
»Josephine.« Ein Spiel in vier
Acten von Hermann Bahr.

Höflicher als Herr Bahr kann
man nicht sein: Er liess durch
seine Prolog-Muse dem Publicum
sagen: In Jedem von Euch steckt
ein Napoleon. Das Publicum aber
antwortete: Magst Du Deinem Na-
poleon gleichen; wir fühlen uns
kleiner als der Grosse, den Du uns
schuldig geblieben bist. Die Vor-
stellung von der Genialität Napo-
leons wurzelt ebenso berechtigt
als tief im Menschengeschlechte,
dass der Frevler, welcher daran
rütteln will, wie an einem Felsen
zerschellt. Es scheint, dass Bahr,
der so viel schon überwunden hat,
nun selbst bald überwunden sein
wird. Zumindest hat er mit diesem
Stück seine arrogirte Rolle des
Führers der Wiener Literaten nicht
befestigt. Sein »Spiel« wäre ihm besser
gelungen, wenn er einfach in den
»Verliebten« Donnay’s anstatt des
Namens des Liebhabers den Na-
poleons gesetzt hätte. Bahr glaubt,
dass ein grosser Mann sofort dem
Unbedeutendsten gleich wird, so-
bald auch er einmal allzu mensch-
liche Empfindungen hegt. Er weiss
nicht, dass, je höher ein Mensch ver-
anlagt ist, desto verschiedenartigere
Actionen in seinem Inneren sich
gleichzeitig abspielen. Wenn auch
nur Eine davon in Erscheinung tritt,
nehmen die andern lautlos ihren
Fortgang. Diese Complicationen der
Seele und des Geistes muss auch

der Dialog in einem Napoleon-
Stücke wiederspiegeln. Aber selbst
die besten Worte des Herrn Bahr
nehmen sich im Munde Napoleons
nicht sonderlich gut aus und die
von ihm erlebten Frauenzimmer,
welche in »Josephine« auf der Scene
erscheinen, dürften, wären sie Na-
poleon gegenüber gestanden, anders
als mit Herrn Bahr geplaudert haben.
So wenig das Publicum das Stück
ernst nahm, so sehr schien dies
der Autor gethan zu haben und
der Misserfolg und Eclat ihn dies-
mal hart zu treffen. Bei seinem
Erscheinen nach den von Zisch-
fluthen und höhnenden Zurufen
umbrausten Abschlüssen glaubte er
wohl seinen eigenen Helden zu
verkörpern: den Wiener Literatur-
Napoleon nach Waterloo.

—i— .

— Wir haben im Frühling vorigen
Jahres an dieser Stelle über das
erste Buch der Fürstin Alice Can-
tacuzène
berichtet, welches mit
dem Titel »la Steppe« unter dem
Pseudonym Alex. d’Arc bei Cal-
mann Levy erschienen ist. Die
Fürstin hat nunmehr ein zweites
Buch, »Croquis Russes«, unter ihrem
eigenen Namen bei Fischbacher er-
scheinen lassen. Während die Ver-
fasserin in ihrem Roman durch
den Faden der epischen Gescheh-
nisse an ein bestimmtes Milieu ge-
bunden war, gestattet ihr diese
Skizzensammlung eine gewisse Viel-
farbigkeit. Zwar staunen wir wieder
bisweilen vor der gefrässigen Ein-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 4, S. 158, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-04_n0158.html)