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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 172

Text

172 MULTATULI.

dass ich ihn nicht aufgeschlitzt hatte. Denn — das bekannten sie mit
japanischer Offenherzigkeit — wo nichts ist, verliert selbst die Lüge
ihr Recht auf Mord an der Wahrheit.

— Und wie viel Einnahme bringt Euch das? fragte der Kami
mit freundlicher Theilnahme.

— Es bringt mir nichts ein, o liebenswürdiger Kami!

Wieder schrieb der Secretär in sein Büchelchen: »Die Wahr-
heit ist in Holland so wohlfeil
, dass sie nicht bezahlt
wird
, denn die sie liefern, haben keinen Bauch

— Habt Ihr Lust, hier mit uns zu frühstücken?

— Mit Vergnügen.

Und ich nahm zwischen Kami und Kami Platz. Aber die anderen
Kamis sassen nebeneinander, wie es in Japan gebräuchlich ist. Auch
am unteren Ende der Tafel sass ein Kami. Darauf folgte ein Gespräch,
das ich so gut wie möglich wiedergebe.

— Eins sage mir doch, Genie von verkehrter Geburt, wie viel
Götter gibt es?

— Genau kann ich es nicht sagen, Kami. Lass’ seh’n Nor-
wegen, Schweden, Dänemark, Russland, Polen, Anhalt-Dessau, Hildburg-
hausen, Monaco

— Aber das ist Geographie. Ich fragte Euch nach den Göttern
das nennt ihr hier, meine ich, Theologie.

— Freilich, Kami. Aber die Theologie beruht auf der Geographie,
und zwar auf der politischen. Jeder Staat hat seinen eigenen Gott,
oder auch zwei einen antiken und einen modernen. Wenn das
Fürstenthum Hechingen mit Russland in Krieg geräth, kommt ein
Conflict zwischen den Göttern dieser Länder. Der Gott von den Nieder-
landen ist der beste

— Woraus beweist Ihr dies?

— Kami, es steht in allen niederländischen Schulbüchern Ist
das japanischer Thee, o Kami?

— Ja, wir haben ihn von Otto Roelofs, der auch in Jeddo
ein Depôt hat. Könnt Ihr’s schmecken, o verkehrt Geborener?

— Ja, er schmeckt wie ein Spaziergang über die Weide drei
Tage nach dem Mähen.

— Die Kamis klatschten in die Hände voll Entzücken, beinahe
wie ein Holländer, der seinen nationalen Ruhm auf ein- und wieder
ausgeführten Schiedammer Käse aus Köln basirt.

— Thee ist die Freude des Herzens, o Kami.

— Was nennt Ihr ein Herz, zu schlechter Stunde Geborener?

— Es ist ein Buch ohne Blätter, wohlwollender Fremdling.

— Verleiht man es in Leihbibliotheken?

— Nein, Kami, zu leihen ist es nicht, aber wohl wird es dann
und wann verkauft, zumal wenn es schlecht geschrieben ist.

— Und wer es verkauft?

— Der behilft sich so lange mit »Principien«, mit Dogmen, mit
Gewohnheiten, mit dem Umsehen nach »Man’s« Urtheil.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 172, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0172.html)