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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 174

Text

174 MULTATULI.

— Aha, Tugend! — Nehmt noch ein Schälchen Thee, der Ihr
verdientet, aufgeschlitzt zu sein trinkt, freut Euch, streckt die Beine
aus und sagt mir, was Tugend ist.

— Gern thue ich das, Kami, der Ihr Weisheit aufschlürft wie
Aufguss der Blätter vom Strauche des Lebens, aber tausend ja! es
ist gefährlich! Schwört Ihr mir, Kami, dass Ihr Nichts wiedererzählen
werdet von dem, was ich Euch über Tugend sage? Dass Ihr es weder
dem König sagen werdet, noch dem Minister, noch dem Besitzer von
Euerem Hotel, noch dem Mädchen, das Ihr soeben rufen liesset, noch
dem Mann, der Euere Stiefel putzt?

— Wir tragen keine Stiefel. Frei heraus, Mann ohne Bauch, seid
ohne Sorge. Trügen wir auch Stiefel, wir würden es doch Niemandem
sagen. Was ist Tugend?

— Kami, ich weiss nicht, was Tugend ist!

— Das dacht’ ich wohl, als ich vernahm, dass Ihr nicht einmal
im Stande seid, Uhren mit Unzüchtigkeiten zu machen. Aber wenn
Ihr es doch nicht wisst, warum hattet Ihr dann solche Furcht, dass
wir es wieder sagen würden, was Ihr selbst nicht sagen könnt.

— Das ist es gerade, o tugendgieriger Kami, der Ihr Unzüchtig-
keiten liebt auf Uhren. Das ist es gerade. Man weiss genau,
was Tugend ist, Man misshandelt den verkehrt Geborenen, der es
nicht weiss.

— Aber sagt mir dann, o Mann, dessen Seele unrecht geboren
ist, sagt mir dann, was Man für Tugend hält.

— Das ist etwas Anderes, würdiger Kami, aber die Erzählung
ist lang, weil Man sich so oft verändert, und die Tugend von Man
mit ihm. Es sind viele Tugenden von Man verloren gegangen — die
meisten Tugenden werden nicht aufgeschrieben, Kami — doch was
da bewahrt geblieben ist, das will ich Alles gern, so viel ich nur
weiss, erzählen.

Am Anfang war Tugend nirgends. Man war tugendsam, so
lange Niemand über Tugend sprach. Tugend ist die Eigenschaft von
taugen, o sprachkundiger Kami. Am Anfang nun taugte Alles. Die
Kuh frass Gras, ohne dass Jemand dem Thiere sagte, wie es thun
müsse, um dieses Gras zu Milch und Butter zu verarbeiten. Man
handelte gut, Man taugte bis dass da Menschen kamen, die An-
leitungen gaben, wie die Kuh Gras fressen müsse, und wie man thun
müsse, um zu taugen.

Die Anleitungen für die Kühe thaten keinen Schaden. Die ein-
fältigen Thiere lasen sie nicht. Das ist eine grosse Tugend bei den
Kühen, o Kamin. Aber Man las die Anleitung, um zu taugen. Das
war Man’s erste Untugend, o Kami, der Wissenschaft wie einen
Morgentrank geniesst.

Denn die erste Natur des Menschen war gut. Aber Man fing
an zu erzählen, was gut ist, und von dem Augenblick an hatte
Man so viele Tugenden, als Man Köpfe hat: Legion, wie ich schon
sagte, o Kamin, bewandert im Unbegreiflichen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 174, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0174.html)