Text
Die Mutter hatte ihr Kind lieb. Man sagte: »Hört, Mütter, ihr
müsst euere Kinder lieben!« Wenn nun eine Mutter ihr Kind recht
lieb hatte, dachte dies gleich: »Du musst wohl, Man hat dir
befohlen.«
Es lag in der Natur, dass Herzlichkeit aus den Beziehungen
zwischen den Geschlechtern entsprang. Das war auch so bei den
Gänsen, die zusammen ihre Jungen bewachen. Freilich bei den Gänsen
ist es so geblieben, weil es Niemanden gab, der es ihnen vorschrieb.
Kurzum, o Kami, der Ihr liebenswürdig seid, wie ein Ehegenoss
der brütenden Gänse, seid Ihr verheiratet?
— Nein, Mann von unrechter Herkunft.
— Thut nichts zur Sache, Kami, der Ihr in der Lage des
Gänserichs ebenfalls liebenswürdig sein würdet die Tugend ver-
schwand, als Man über die Tugend sprach, wie die Stille verschwindet
durch lärmende Silentiumrufe.
Man machte Tugenden, die an die Stelle der Tugend
traten. Und die fabricirten Tugenden wechselten mit der Saison, ja
mit der Woche. Was heute Tugend war, wird morgen Untugend, und
umgekehrt. Wer nun die Tugend des vergangenen Jahres umhinge,
würde aus der Mode sein und als verkehrt geboren angesehen werden.
Wer sich in die Tugend der Zukunft kleidet, wird ausgepfiffen wie
Wagner’s Musik in Paris. Die Hauptsache ist, dass man sich mit den
Tugenden des Tages behängt. Wer das gut beachtet, ist modern,
taugend, tugendhaft.
Vor langen Jahren z. B., o Kami, der Ihr seidene Stoffe zum
Geschenk gebt, vor Jahren hegte man Glauben an Jupiter, Venus, Vesta
und dergleichen Dinge Sommerstoffe, die durch Dichter in freier
Luft gewebt werden. Es waren wohl hie und da schöne Zeichnungen
in den Geweben, aber die Farbe verschoss in der Kälte.
Darauf folgte eine Zeitlang ein wirres Durcheinander von allerlei
anderen Gottesdiensten
— Ich fragte Euch nach Tugend, o Mann, der du die Dinge
durcheinander wirfst ich fragte nach Tugend, und Ihr sprecht mir
nun vom Gottesdienste
— Ihr habt Recht, Kami, Fürst in der Kunst subtiler Unter-
scheidung. Es war einmal hier und da Tugend, seine Mitmenschen
aufzuessen. Man war dagegen und meinte, dass Verbrennen besser
sei um des fröhlichen Wesens wegen. Denn Feuer gibt Licht,
o Kami, der ihr Naturkunde aufsaugt wie ein Schwamm, und Licht
gibt Klarheit. Man verbrannte Alles, was andere Tugenden hatte als
Man selbst. Zuletzt langweilte dies fortgesetzte Illuminiren — Ihr
könnt Euch eine Idee machen, o Kami, der Ihr durch die langen Reihen
von Gasflammen vor dem Zelt im Park herumgeführt seid — das
Illuminiren wurde langweilig, man schlug den Leuten den Kopf ab,
was für Viele ein kleiner Verlust ist. Noch später erdachte man andere
Mittel, um zu Man’s Tugenden zu zwingen. Man erstickte die Patienten.
Das ist Man’s wohlfeilste und im Augenblick gebräuchlichste Manier.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 175, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0175.html)