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— Mit Eurem Wechsel könnt Ihr alle Abweichungen von Ent-
haltung zudecken, die man Euch als Unkeuschheit anrechnen wird,
wenn Ihr sie nicht mit einem Wechsel zudeckt. Meint Ihr, o Kami, da
Ihr Eure Tugenden in Wechseln durch die Post empfängt, meint Ihr,
dass die niederländische Regierung, die stets in allerlei Tugenden des
Tages glänzte, Euer Lieferant in »Unzüchtigkeiten« gewesen wäre, wenn
Ihr tugendsam genug gewesen wäret, sie nicht in japanischem Kupfer
und lackirten Präsentierbüchschen zu bezahlen? Nein, Kami! Was bei
einem armen Teufel gemein befunden worden wäre, wird in Niederlands
Augen edel, gross und keusch, sobald es von einer Regierung ausgeht,
die so reich an lackirter Tugend ist als die japanische.
Und mehr noch, Kami Darf ich Euch ersuchen, das Kammer-
mädchen zu rufen? Und den Diener auch? Aber Einen nach dem Andern!
Der Diener kam zuerst, weil das Kammermädchen eine Lection
in Japanisch nahm.
— Sage mir, Diener, bist du tugendhaft?
— Ja, mein Herr, sehr tugendhaft.
— Das hätte ich ihm nicht angesehen, riefen die Kamis. Er
sieht nicht aus wie Einer, der beträchtliche Wechsel in seinem Porte-
feuille hat.
— Einen Augenblick, o interessante Fremdlinge, die ihr zu hoch
steht, um das Geringe zu verachten. Es gibt grosse Tugend und kleine
Tugend. Ich vermuthe, dass wir hier ein Beispiel von kleiner Tugend
haben. Sag mir, mit Tugenden gesegnet über viele Knechte und Herren,
bist du ehrlich?
— Ja, mein Herr, denn das währt am längsten. Ich habe hier
sechs Gulden in der Woche und volle Kost.
— Da habt Ihr die Ehrlichkeit in der einfachsten Form, o Kami,
so einfach wie das Lampenschirmchen, das Ihr an Stelle eines Hutes
auf Euer Haupt gesetzt habt. Der Mann berechnet Sage doch, Diener,
wie viel hättet, falls Ihr nicht ehrlich wäret, Ihr auf einmal stehlen
können?
— Einmal wohl tausend Gulden, mein Herr. Aber dann wär’
ich zum Teufel gejagt worden.
— Freilich. Merkt nun gut auf, o Kami. Dieser Mann verdient
sechs Gulden per Woche und »die Kost«. Rechnen wir sie für fünf-
hundert per Jahr. Die mittlere Dauer der Bedientencarrière wird wohl
dreissig Jahre sein. Die Belohnung der Ehrlichkeit dieses Mannes beläuft
sich also auf fünfzehntausend Gulden. Es ist also ganz nach der Mode
des Tages, diese Belohnung dem Wenigen vorzuziehen, das seine Un-
ehrlichkeit ihm einbringen könnte, um gar nicht von den Unannehm-
lichkeiten zu reden, die sie ihm einbrocken würde. Ihr selbst habt
gehört, Kami, wie er in der Sprache der Volksweisheit die Ehrlichkeit
als »am längsten während« pries.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 177, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0177.html)