Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 189
Text
Ich will lieber vom Talent sprechen; immerhin bin ich da, wenn
auch nur um ein Tröpflein, competenter.«
Hier beginnt eine Auseinandersetzung über das Talent, seine ge-
fährliche Macht über den Menschen, über die Lüge aus Talent und
die Lüge an sich. Es würde uns zu weit von unserem eigentlichen
Thema wegführen, wollten wir diese Erläuterung unverkürzt wiedergeben.
Sie ist im Uebrigen an anderem Orte mehr am Platze; da, wo wir
über Dostojewsky’s Verhältniss zur Lüge sprechen. Im weiteren Ver-
laufe seiner Ausführungen kommt der Dichter zu dem Schlusse, dass es
nicht das Geld allein ist, welches dem Vertheidiger gefährlich ist,
sondern auch die eigene Kraft des Talents, das ihm zuflüstert: »Wie
sollte ich denn nicht gewinnen, da ich ein Talent bin? Soll ich denn
selbst meinen Ruf vernichten?«
Hier wäre also der dritte feste Punkt der strafrechtlichen An-
schauungen Dostojewsky’s gefunden.
Wir müssen uns diese drei Punkte formuliren, um sie mit dem
Bewusstsein festhalten zu können, wenn wir uns mit den einzelnen
Fällen bekanntmachen und in ihrem »lebendigen Leben« nicht ver-
lieren wollen. Sind ja auch sie, alle diese theoretischen Forderungen
nur scheinbare Abstractionen. Sie sind aus dem tiefsten Erkennen des
Lebens geschöpft und sollen auch in ihrer Anwendung nur dem Leben
dienen. So stellt uns also der Dichter im Axiom von der Schuld die
sittliche Freiheit auf, in jenem der richterlichen Gerechtigkeit
das strenge Mitleid und fordert endlich vom Vertheidiger in erster
Linie die eigene Reinigung von Selbstsucht und Eitelkeit, in zweiter
Linie, und das ist sehr wichtig, die strenge Trennung zwischen der
That und dem Thäter. Dass als letzte Consequenz dieser Forderungen
eine Rechtsprechung entstehen müsste, welche so erbarmungslos gegen
die Schuld als erbarmungsvoll (nicht entschuldigend) für den »Un-
glücklichen« wäre (wie das russische Volk seine Verbrecher nennt) und
auf diesem Wege eine Sühne einzuleiten vermöchte, das erhellt wohl
aus dem oben Dargelegten zur Genüge.
Und nun zum »lebendigen Leben«.
Von den vier Processen, welche der Dichter analysirt, endeten
drei mit einem Freispruch, einer mit der Verurtheilung des Angeklagten.
Es ist nach dem vorher Gesagten wohl nicht verwunderlich, dass Dosto-
jewsky sich im Widerspruch gegen diese Urteilssprüche befindet,
allein nicht nur gegen die Freisprechungen, sondern auch gegen die
Verurtheilung. Ja, noch mehr, er ist es, der durch seine Antheilnahme
eine Wiederaufnahme des Verfahrens und dadurch den Freispruch
bewirkt. Nebenbei bemerkt, sind in drei Fällen Kinder die Beschädigten.
(Schluss folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 189, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0189.html)