Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 188
Text
Wir kehren nun mit Dostojewsky zur positiven und ernsten Seite
seiner Betrachtungen zurück:
»Es ist im höchsten Grade moralisch und rührend, wenn der
Advocat seine Mühe und sein Talent zur Vertheidigung Unglücklicher
gebraucht; das ist ja ein Menschenfreund. Nun aber taucht bei uns
die Vorstellung auf, dass er wissentlich einen Schuldigen vertheidigt
und rechtfertigt, ja, nicht nur das allein, sondern dass er nicht anders
könnte, wenn er auch wollte. Man antwortet mir, dass das Gericht
keinem Verbrecher den Rechtsbeistand des Advocaten versagen könne,
und dass ein ehrenhafter Anwalt in diesem Falle immer ehrenhaft
bleiben wird, denn er werde immer das Ausmass der wirklichen Schuld
seines Clienten finden und bestimmen, jedoch keine schwerere Strafe
zulassen, als darauf stehe etc. So heisst es, obwohl diese Voraussetzung
eine Aehnlichkeit mit dem grenzenlosesten Idealismus hat. Mir scheint,
dass der Unwahrheit entgehen und die Ehrenhaftigkeit und Gewissen-
haftigkeit bewahren, für einen Advocaten ebenso schwer ist, als es,
allgemein gesprochen, jedem Menschen schwer ist, den paradiesischen
Zustand zu erlangen.«
»Hatten wir ja schon Gelegenheit zu hören, wie Advocaten vor
Gericht laut, gegen die Geschworenen gewendet, fast Schwüre ablegten,
dass sie einzig und allein nur dann die Vertheidigung ihrer Clienten
übernommen haben, weil sie sich von ihrer Unschuld vollkommen
überzeugt hatten. Wenn ihr diese Betheuerungen hört, schleicht sich
der hässliche Argwohn unabweisbar bei euch ein: »Wenn er aber
lügt und einfach Geld genommen hat?« Und in der That, sehr oft
ist es nachträglich zu Tage getreten, dass diese mit so viel Feuer
vertheidigten Clienten sich durchaus und unbestreitbar als Schuldige
erwiesen. Ich weiss nicht, ob es bei uns vorgekommen ist, dass Advo-
caten, die ihren Charakter als von der Unschuld ihrer Clienten voll-
kommen überzeugter Leute bis ans Ende aufrechterhalten wollten, in
Ohnmacht fielen, als die Geschworenen das Verdict: »Schuldig« aus-
sprachen, dass sie aber Thränen vergossen, das ist sicherlich schon in
unserem noch so jungen Gerichtswesen vorgekommen — — — ausser-
dem dämmert Einem ein unsinniges Paradoxon auf, dass der Advocat
nämlich niemals nach seinem Gewissen handeln kann, dass er nicht
anders könnte, als mit seinem Gewissen zu spielen, wenn er es auch
nicht wollte, dass das schon ein zur Gewissenlosigkeit bestellter Mensch
ist, und dass endlich das Wichtigste bei alledem ist, dass eine so
traurige Sache sogar schon gleichsam durch irgend wen oder irgend
etwas zum Gesetz erhoben worden ist, so dass es durchaus nicht
mehr als eine Abweichung angesehen wird, sondern im Gegentheil als
normale Ordnung der Dinge «
»Uebrigens lassen wir das; ich fühle nur zu sehr, dass ich mich
da auf ein fremdes Thema eingelassen habe. Ich bin sogar überzeugt,
dass diese Bedenken durch die Rechtswissenschaft schon längst zur.
vollen Beruhigung Aller und eines Jeden gelöst worden sind, und dass
nur ich allein von Allen nichts davon weiss.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 188, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0188.html)