Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 187
Text
legt das anleitende Erkenntniss des Cassationshofes vor, bringt den
Staatsanwalt aus dem Concept, und siehe da — der Unschuldige ist
freigesprochen. Ja, ja, das ist nützlich. Was finge denn bei uns ein
Unschuldiger ohne Advocaten an?«
»Das Alles sind, ich wiederhole es, naïve und Allen bekannte
Betrachtungen. Aber immerhin ist es sehr angenehm, einen Advocaten
zu haben. Ich selbst habe diese Empfindung an mir erfahren, als ich
einmal, da ich eine Zeitschrift redigirte, plötzlich unversehens, aus
Unachtsamkeit (was Allen leicht geschieht) eine Nachricht durchliess,
die ich nicht anders als mit Erlaubniss des Herrn Hofministers hätte
drucken dürfen. Da verkündet man mir plötzlich, dass ich unter An-
klage stehe. Ich hatte auch gar nicht vor, mich zu vertheidigen, meine
Schuld war sogar mir einleuchtend; ich hatte das klar vorgeschriebene
Gesetz übertreten, das konnte juridisch nicht bestritten werden.
Allein das Gericht bestimmte mir einen Vertheidiger (einen Menschen,
den ich oberflächlich kannte, und mit dem ich in irgend einer »Ge-
sellschaft« beisammen gesessen hatte). Er erklärte mir mit einemmale,
dass ich nicht nur nicht schuldig, sondern vollkommen im Rechte sei,
und dass er fest entschlossen sei, mich mit allen Kräften zu halten.
Ich hörte das natürlich mit Vergnügen an. Als nun die Verhandlung
vor sich ging, da, ich gestehe es offen, empfing ich einen ganz un-
erwarteten Eindruck. Ich hörte und sah, wie mein Advocat sprach,
und der Gedanke daran, dass ich, der durchaus Schuldige, nun plötzlich
als ein ganz Gerechter herauskomme, war so amüsant und zugleich
aus irgend einem Grunde so anziehend, dass ich, ich muss es be-
kennen, diese halbe Stunde bei Gericht zu den heitersten Stunden
meines Lebens zähle; ich war ja kein Jurist und konnte darum eben
nicht begreifen, dass ich vollkommen im Rechte sei.«
»Natürlich verurtheilte man mich; mit Schriftstellern geht man
strenge in’s Gericht; ich bezahlte 25 Rubel und sass überdies zwei
Tage in der »Heugasse« auf der Hauptwache, wo ich die Zeit sehr
lieb, ja mit Gewinn zubrachte und den und jenen, dies und das kennen
lernte.«
Wir werden später noch besser erkennen, welche Feinheit darin
liegt, wenn der Dichter sich selbst in humoristischer Weise als ein
Object der advocatischen Reinwaschungsmethode hinstellt, die sogar
in ihm, der ja mit allen schweren Waffen dagegen zu Felde zieht,
einen Augenblick hindurch eine »aus irgendwelchen Gründen so an-
ziehende Empfindung« hervorruft. Dieses Bekenntniss der eigenen
Schwäche ist, auch wenn das Erlebniss nicht stattgefunden hätte, so
glaubwürdig im psychologischen Sinne, dass es als schlagendes Argument
da steht, gleichsam spielend vom Dichter in die heitere Episode hinein-
geschmuggelt wird, als Argument gegen die Fälschung des Rechts
durch eine Vertheidigungsart, die nicht nur Analphabeten, sondern
sogar ihm, dem Dichter und Seher, einen Augenblick »anziehend« er-
scheinen konnte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 187, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0187.html)