Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 186

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 186

Text

186 HOFFMANN.

»Nein! Im Gegentheil, gerade hier muss man die Wahrheit
sprechen und das Böse bei seinem Namen nennen. Wir werden mit
dem Gedanken in den Gerichtssaal treten, dass auch wir schuldig sind.
Dieses Herzleid, das jetzt Alle so sehr fürchten, und mit welchem wir
den Saal verlassen, es wird auch unsere Strafe sein. Ist dieser
Schmerz echt und stark, so wird er uns reinigen und bessern. Wenn
wir uns selbst bessern werden, so werden wir auch das Milieu bessern;
dieses kann ja nur dadurch allein gebessert werden. So aber läuft
man vor dem eigenen Mitleid davon und spricht Alles in Bausch und
Bogen frei. Das ist ja leichtfertig.« — — —

Hier ist also der zweite feste Punkt für die Betrachtung der
Gerichtspflege sub specie aetermitatis gewonnen.

Eng an diese zwei Grundanschauungen über Schuld und Urtheil
schliesst sich, wie dies ja in der Natur der Sache liegt, die Forderung,
welche Dostojewsky an den Vertheidiger stellt, dessen Amt es ja ist,
als vermittelnder Factor zwischen Ankläger und Angeklagtem zu stehen.

Wir finden am Eingang seiner Besprechung des Falles Kroneberg
im Februar-Heft des Tagebuches 1876, nachdem der Dichter seinen
Lesern die Facten dieses Processes auseinandergelegt hat, ein be-
sonderes Capitel »über Advocaten im Allgemeinen«, das der Dichter,
da er ein persönliches Erlebniss als Beispiel benützt, mit jenem
beissenden Humor behandelt, den er in dem uns schon bekannten
Briefe an die Tochter Miljukow’s über seine Gefangennahme aufprasseln
lässt. Hier das Wesentliche aus diesem Capitel:

»Uebrigens nur zwei Worte über die Advocaten im Besonderen.
Kaum habe ich die Feder ergriffen, so fürchte ich mich auch schon.
Ich erröthe schon voraus über die Naïvetät meiner Fragen und Voraus-
setzungen. Es wäre ja doch gar zu naïv und einfältig einerseits, wenn
ich mich z. B. darüber ausbreiten wollte, was für eine nützliche und
angenehme Institution die Advocatur ist. Seht, ein Mensch begeht ein
Verbrechen, kennt aber die Gesetze nicht. Schon ist er bereit, sich
schuldig zu bekennen, da kommt aber ein Advocat daher und beweist
ihm, dass er nicht nur im Rechte, nein, dass er ein Heiliger ist. Er
legt ihm die Gesetze vor, er klaubt ihm ein anleitendes Erkenntniss
des Senates vom Cassationshof heraus, welches der Sache plötzlich ein
anderes Aussehen verleiht, und endet damit, dass er den Unglücklichen
aus der Grube zieht. Eine höchst angenehme Sache! Nehmen wir an, man
könnte hier entgegnen, dass das theilweise unsittlich sei. Aber da steht er ja
vor euch, der Unschuldige, der schon ganz Unschuldige, der treuherzige
Kerl! Dabei aber sind die Anklagen solche, und der Staatsanwalt hat
sie so gruppirt, dass ein Mensch offenbar ganz zugrunde gehen müsste
durch fremde Schuld. Dabei ist der Mensch ein Analphabet, von Ge-
setzen weiss er nicht so viel, als in einen hohlen Zahn geht, und
weiss nur und murmelt nur: »Wissen, weiss ich’s nicht, kennen, kenn’
ich’s nicht« — womit er zuletzt sowohl Geschworene als Richter in
Aufregung bringt. Aber da kommt der Advocat, der sich schon die
Zähne an den Gesetzen ausgebissen hat, er legt den Paragraphen dar,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 186, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0186.html)