Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 185

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 185

Text

DOSTOJEWSKY ÜBER STRAFPROCESSE. 185

»Ganz einfach aus Mitleid mit dem fremden Schicksal; es sind
ja doch auch Menschen,« meinten Andere, wie man hören konnte.

Nun bringt der Dichter ein anderes Argument vor, vielmehr
einen Einwand, den er in ein Argument kleidet, das sofort von einem
unsichtbaren Gegner umgestossen wird. In England, meint er, sei das
Volk auch mitleidig, wenn auch nicht so weichherzig wie das russische
Volk. Dennoch habe seine christliche Menschlichkeit Kraft und Festig-
keit und leiste Grosses im Staate. Gleichwohl aber seien die Ge-
schworenen im Vollgefühl ihrer Bürgerpflichten gewissenhaft in der Er-
füllung ihres Richteramtes, und das weit über ihr persönliches Mit-
leiden hinaus.

»Sehr wohl,« antwortet der unsichtbare Gegner, »aber wie wollen
Sie, dass unser Volk, unsere Geschworenen von gestern heute in ihren
Bürgerpflichten gefestigt seien?« Diesen Einwand muss der Dichter
gelten lassen.

Nun wendet eine zweite Stimme ein: »Das russische Volk fühle
sich dieses Himmelsgeschenkes noch nicht würdig, wiewohl im Gefühl
der Unwürdigkeit gerade eine grössere Bürgschaft für die Würde liegt
als in einem blinden Selbstvertrauen. Vorläufig also nur, ehe es seinen
schönen, bürgerlichen Pflichten gewachsen ist, ist das Volk demüthig,
mitleidig. Allein es wird noch durch etwas Anderes bestimmt: »Wir
sitzen da als Geschworene und denken möglicherweise: sind wir denn
besser als der Angeklagte? Wir sind reich, in gesicherten Verhältnissen
— kämen wir nun zufällig in seine Lage, so würden wir, wer weiss
es denn, vielleicht schlechter handeln als er — wir haben also Mit-
leid.« So kann also dieses herzliche Mitleiden sehr richtig sein. Es
kann möglicherweise ein Unterpfand von etwas so Grossem, Christ-
lichem in der Zukunft sein, wie es die Welt bis heute noch nicht
kennt!«

»Das ist schon theilweise ein slavophiler Gedanke, erwäge ich
im Stillen bei mir,« fährt Dostojewsky, sich selbst gleichsam plastisch
hinstellend, fort. »Der Gedanke ist in der That erfreulich und die An-
nahme einer demüthigen Empfindung des Volkes angesichts einer ihm
unverdient geschenkten Macht, deren es vorläufig »unwürdig« ist, ist
wohl schon reiner als die Annahme eines »dem Staatsanwalt gespielten
Possens« Allein was mich am meisten betrübt, ist, dass unser Volk
sich plötzlich vor dem eigenen Mitleid fürchtet. Es schmerzt, es
schmerzt sehr, sag’ ich euch — einen Menschen zu verurtheilen. Nun,
und was weiter? So werdet ihr eben mit einem Schmerz aus dem
Saale gehen. Die Wahrheit steht höher als euer Schmerz.«

»In der That, wenn wir uns manchmal für schlimmer halten
müssen, als den Verbrecher, so gestehen wir euch damit ein, dass wir
an seinem Verbrechen zur Hälfte schuldig sind. Wenn er das Gesetz
seines Landes übertreten hat, so sind wir selbst mit Schuld daran,
dass er jetzt vor uns steht. Wären wir Alle besser, so wäre auch er
besser und stünde jetzt nicht vor uns «

»Also freisprechen soll man ihn?«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 185, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0185.html)