Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 184
Text
es die socialistischen Aerzte annehmen, dass du in was immer für
einer Gesellschaftsordnung dem Bösen nicht entgehst, dass die Seele
des Menschen immer dieselbe bleibt, dass Abnormität und Sünde aus
ihr selbst hervorgehen und dass die Gesetze des menschlichen Geistes
noch so unbekannt, von der Wissenschaft noch so unerforscht, so un-
abgegrenzt und so geheimnissvoll sind, dass es da noch keine Aerzte,
ja nicht einmal endgiltige Richter geben kann, ausser dem, der da
sagt: Mein ist die Rache und Ich vergelte.«
Nach diesem Ausschnitt aus einer allgemeinen Betrachtung wissen
wir, was wir von der Betrachtung des einzelnen Falles zu erwarten
oder — zu gewärtigen haben, die Forderung einer Gerichtspflege sub
specii aeternitatis — kein Schöffengericht, ein jüngstes Gericht der
Gewissen.
Nun hören wir, was Dostojewsky denn von diesen Gerichten
fordert, welche ein Ukas Kaiser Alexanders II. erst vor Kurzem im
Inneren des Landes angeordnet hatte. (Den Grenzprovinzen, namentlich
Polen, war die Einführung von Schwurgerichten nie ertheilt worden.)
Im zweiten Heft des »Graždanín« vom Jahre 1873 erschien ein Artikel
Dostojewsky’s unter der Aufschrift »Das Milieu«. Darin heisst es ungefähr:
»Wie verhält sich unser Volk dazu, dass ihm, dem Leibeigenen
von gestern, eine so grosse Macht über das Schicksal seines Nächsten
so über Nacht, wie vom Himmel in den Schoss gefallen ist? Wie ge-
braucht es diese Macht? — Durch Freisprechungen!« Weiter heisst es
wörtlich:
»Das ist natürlich auch eine Machtäusserung, sie geht fast über
das ganze Land, aber nach welcher Richtung diese Einseitigkeit sich
neigt, nach der sentimentalen etwa — das bringst du nicht heraus —
immer ist es eine allgemeine, ja geradezu hier überall geplante Rich-
tung, als hätten sich Alle dazu verabredet Die Allgemeinheit der
»Richtung« ist ganz unzweifelhaft. Das Räthsel liegt nun darin, dass
die Manie des um jeden Preis Freisprechens nicht nur unter den
Bauern, den Erniedrigten und Beleidigten von gestern, herrscht, sondern
alle russischen Geschworenen durchwegs ergriffen hat, auch jene der
höchsten Kategorie, die Noblemen und die Universitätsprofessoren.
Diese Gemeinsamkeit schon allein bildet ein höchst interessantes Thema
fürs Nachdenken und führt zu mannigfaltigen, man möchte sagen, selt-
samen Vermuthungen.«
»Es ist nicht lange her, da war in einem unserer einflussreichsten
Tagesblätter in einem sehr bescheidenen und höchst wohlmeinenden
Artikelchen so nebenbei die Muthmassung ausgesprochen: ob denn
unsere Geschworenen, als Leute, die plötzlich so viel Macht in sich
fanden (wie vom Himmel herunter), ja, noch dazu nach einer jahr-
hundertelangen Niedrigkeit und Gedrücktheit, nicht etwa geneigt seien,
der Obrigkeit bei jeder passenden Gelegenheit einen Possen zu spielen,
so, als Contrast zur Vergangenheit, wenn auch nur z. B. dem Staats-
anwalt zum Possen. Diese Muthmassung ist nicht dumm, auch nicht
ohne Witz, allein sie bedarf selbstverständlich gar keiner Widerlegung.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 184, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0184.html)