Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 183

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 183

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DOSTOJEWSKY ÜBER STRAFPROCESSE. 183

in der menschlichen Gesellschaft historisch festgestellt. Diesem aus-
gearbeiteten Codex muss blind gehorcht werden. Wer nicht folgt, wer
ihn überschreitet, der zahlt mit der Freiheit, mit dem Besitz, mit dem
Leben, der zahlt buchstäblich und unmenschlich. Ich weiss, sagt ihre
Civilisation selber, dass dies blind, unmenschlich und unmöglich ist,
da man ja unmöglich die endgiltige Formel des Menschthums schon
in der Mitte seines Weges herausarbeiten kann; da es aber keinen
anderen Ausweg gibt, so heisst es eben, sich an das halten, was ge-
schrieben steht, und zwar buchstäblich und unmenschlich, wenn nicht,
so wird es noch schlimmer sein. Zugleich aber, ungeachtet der ganzen
Abnormität und Hässlichkeit der Einrichtung dessen, was wir unsere
grosse europäische Civilisation nennen, sollen die Kräfte der mensch-
lichen Seele gesund und unverletzt bleiben, soll die Gesellschaft in
ihrem Glauben nicht wankend werden, dass sie der Vollendung ent-
gegengeht, sie soll es nicht wagen, zu denken, dass das Ideal des
Hohen und Schönen verblasst sei, dass die Begriffe von Gut und Böse
sich verkehrt und verzerrt haben, dass das Normale unaufhörlich gegen
die Convenienz vertauscht wird, dass Einfachheit und Natürlichkeit zu-
grunde gehen, erdrückt durch die unablässig sich aufhäufende Lüge.«

»Die zweite Lösung ist eine entgegengesetzte: Da die Gesellschaft
abnorm eingerichtet ist, so darf man die Einzelwesen für die Folgen
nicht verantwortlich machen. Folglich ist der Verbrecher nicht ver-
antwortlich, und es gibt vorläufig kein Verbrechen. Um mit den Ver-
brechen und der Strafbarkeit der Menschen fertig zu werden, muss
man erst mit der Abnormität der Gesellschaft und ihrer Ordnung fertig
werden. Da es nun langwierig, ja hoffnungslos ist, die bestehende Ge-
sellschaft zu saniren, ja, da sich noch keine Arznei gefunden hat, so
folgt daraus, dass man die ganze Gesellschaft zerstören und die alte
Ordnung wie mit einem Besen wegfegen muss. Dann muss man Alles
aufs Neue beginnen, auf anderen, noch unbekannten Grundlagen, welche
aber immerhin nicht schlechter sein können als die gegenwärtige
Ordnung, sondern im Gegentheil, viele Chancen des Erfolges in sich
schliessen. Die grösste Hoffnung ruht in der Wissenschaft.«

»So sieht also diese zweite Lösung aus. Man wartet auf den künftigen
Ameisenhaufen des Wissens und indessen tränkt man die Welt mit
Blut. Andere Lösungen der Frage von der menschlichen Schuld und
Strafbarkeit bringt die Welt des europäischen Westens nicht auf.«

»Allein in der Anschauung des russischen Autors über Schuld
und Strafbarkeit des Menschen ist klar ersichtlich, dass keinerlei
Ameisenhaufen, keinerlei Triumph des vierten Standes, keinerlei Ver-
nichtung der Armuth, keinerlei Organisation der Arbeit die Menschheit
vor der Anormalität, folglich vor der Schuld und Strafbarkeit erretten
wird. Dies ist mit furchtbarer Tiefe und Kraft, mit einem bis heute
bei uns noch niemals dagewesenen Realismus künstlerischer Einbildungs-
kraft im grossartigen psychologischen Herausarbeiten der Menschenseele
ausgedrückt worden. Klar und verständlich bis zur Augenscheinlichkeit
zeigt es sich, dass das Böse sich in der Menschheit tiefer verbirgt, als

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 183, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0183.html)