Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 182

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 182

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182 HOFFMANN.

heftigen Aufzwingen »seiner Wahrheit«, die er nicht, gleich so vielen
»Literaturen«, in ängstlicher Sparsamkeit für das Buch aufzuspeichern denkt.

Ein anderes kleines aber nicht minder beweiskräftiges Merk-
zeichen für diese »Gluth« liegt wohl darin, dass er junge Mädchen
seiner Bekanntschaft, Studentinnen der Medicin (wovon eine, die im
Vorjahre gestorbene Frau Sophie Jemifowna L., es mir selbst erzählte)
immer dazu anfeuerte, den Sitzungen der Geschworenengerichte beizu-
wohnen, um je eher, je besser den Menschen kennen und — lieben zu
lernen, wie er ist. (Sowie er ihnen ja auch das Lesen Zola’s empfahl,
dagegen — Turgeniew verbot, da er »keine Richtung« habe.)

Wenn wir nun Dostojewsky’s Anschauungen über Gerichte und
Gerichtsverfahren für uns formuliren wollen, soweit sie im »Tagebuch«
ihren Ausdruck finden, so müssen wir unwillkürlich bei drei Ideen oder
Vorstellungsgruppen als Kernpunkten für seine Postulate Halt machen.

Wir finden da vor Allem die Herausarbeitung des Begriffes
»Schuld«, damit also, juridisch gesprochen, sein Verhältniss zur Anklage
bestimmt. Ferner begegnen wir einem Gedanken, der, in seiner sittlichen
Kraft erfasst und beherzigt, das Amt des Vertheidigers zu höherer
Würde zu erheben vermöchte, und endlich erschliesst sich uns da eine
Beurtheilung jener Thatsachen und Empfindungen, also jener objectiven
und subjectiven Motive, welche das richterliche Urtheil beein-
flussen. Auch der technische Apparat, die Fragestellung ist in
seiner Wichtigkeit nicht ausser Acht gelassen.

Allein nicht nur theoretisch entwickelt finden wir im »Tage-
buche« diese Anschauungen. Wir können an den vier Strafverhandlungen,
Welche der Dichter eingehend darin bespricht, die Anwendung dieser
Anschauungen verfolgen, sie auf die Thatsachen hin prüfen.

Wir wollen nun diesen einzelnen Fällen jene allgemeinen Be-
trachtungen Dostojewsky’s vorangehen lassen, die seinen Standpunkt
unzweideutig klar hinstellen.

Da heisst es denn in einem Artikel im Augustheft des »Tage-
buch« von 1877 aus Anlass der Besprechung von Tolstoj’s »Anna
Karénina«:

»Ich kann mich hier nicht auf eine literarische Kritik einlassen,
sondern will nur ein Wörtchen sagen. In »Anna Karénina« ist ein
Blick auf die menschliche Schuld und Strafbarkeit geworfen; es sind
Menschen in anormalen Verhältnissen angenommen; das Böse hat früher
bestanden als sie. Die vom Kreislauf der Lüge erfassten Menschen
machen sich eines Vergehens schuldig und gehen unentrinnbar zu-
grunde. Eines der ältesten und beliebtesten europäischen Themata, wie
man sieht. Wie wird nun aber eine solche Frage in Europa gelöst?
Sie wird dort überall auf zweifache Weise gelöst. Erste Lösung: Das
Gesetz ist gegeben, geschrieben, formulirt, durch Jahrtausende gefestigt.
Das Gute und das Böse sind abgegrenzt, abgewogen; ihr Mass und
ihre Grade wurden durch die Weisen des Menschengeschlechtes, durch
die unaufhörliche Arbeit in der menschlichen Seele, durch das wissen-
schaftliche Herausarbeiten eines immer höheren Grades von Einigung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 182, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0182.html)