Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 181
Text
Der Erfolg des Blattes war so gross, dass es im ersten Jahre
(1876) 1982 Abonnenten zählte, ausserdem aber bei jedem Erscheinen
2000—2500 Exemplare im Einzelverkauf abgesetzt wurden.
Gleichwohl war die Richtung der Zeitschrift noch nichts weniger
als gefestigt. Dostojewsky spricht sich eben an jener Stelle, deren wir
oben Erwähnung gethan haben, folgendermaassen darüber aus:
»Würden Sie z. B. glauben, dass ich noch immer nicht damit
zustande gekommen bin, mir die Form des Tagebuches klar zu machen,
ja, und dass ich noch nicht weiss, ob ich sie je in die Richte bringe,
so dass möglicherweise das »Tagebuch« schon zwei Jahre erschienen
sein und noch immer keine gelungene Sache sein wird? Ich habe
z. B., wenn ich mich zum Schreiben hinsetze, 10—15 Themata im
Sinne. Nun muss ich oft jene Themata, welche mich ganz besonders
erfassen, zurücklegen. Sie nehmen viel Raum ein, verbrauchen viel
Gluth (der Process Kroneberg zum Beispiel).«
Wir benützen diese Einschaltung als Fingerzeig und schlagen im
»Tagebuche eines Schriftstellers« vom Jahre 1876 nach. Da finden
wir denn in der That nahezu einen ganzen grossen Druckbogen diesem
Falle gewidmet, sowie des Weiteren im selben Jahrgang sowie im Jahr-
gange 1877 eingehende Analysen mehrerer eben laufender Strafprocesse.
Wir stossen dabei auf ein, wenn man so sagen darf, ganzes Nest jener Dosto-
jewsky’schen Ideen, welche zuletzt alle in die ihm so theuere Uridee
vom sittlichen Mysterium der Menschenseele zusammenlaufen. Viermal
hat sich der Dichter veranlasst gesehen, über solche ihn »heftig ein-
nehmende« Fälle zu sprechen, ja sogar dabei einzugreifen — immer in der
eindringlichen, um Formen unbekümmerten, unliterarischen Sprache,
die wir an ihm als Ausdruck eines an und für sich überreichen Ge-
haltes kennen.
Ehe wir jedoch auf die Gedanken des Dichters näher eingehen,
sei uns gestattet, einer Bemerkung Worte zu leihen, die sich uns an
dieser Stelle aufdrängt.
Es läge nämlich hier die Annahme sehr nahe, dass der Dichter,
welcher schon in seinem Roman »Schuld und Sühne« ein Meisterstück
juristischer Gewandtheit geleistet hatte, sich nun im Hinblick auf
seinen Roman »Die Brüder Karamasow«, den er um diese Zeit schon
seit sechs Jahren mit sich herumträgt, dem Studium der Gerichtspflege
widmet, um gleichsam das Materiale für seinen Process des »Dmitri
Karamasow« zusammenzutragen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Selbst-
verständlich läuft bei dem intensiven Verfolgen eines Processes sein
schöpferisches Bewusstsein immer mit, sein Formgedächtniss kommt
immer auf seine Rechnung. Allein es ist dies nicht die Hauptsache bei
seinem Interesse. Im Gegentheile; die Ausnützung im Roman ist gleich-
sam ein Nebenproduct der Anregungen, die sein leidenschaftliches
Ethos vor dem Bilde der menschlichen Gebrechen empfängt.
Ein Beweis hiefür liegt ja eben in jenem «gluthverbrauchenden«
Sichausbreiten von Fall zu Fall, in jenem grossmüthigen Geben, ja
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 181, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0181.html)