Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 180

Th. M. Dostojewsky über Strafprocesse (Hoffmann, Nina)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 180

Text

TH. M. DOSTOJEWSKY ÜBER STRAFPROCESSE.1)
Von Nina Hoffmann (Wien).

In jenem Briefe Dostojewsky’s an Christine Danilowna N. vom
9. April 1896, darin er seinen Wunsch ausspricht, noch nicht zu
altern, »um über die Gegenwart noch mit voller Sachkenntniss schreiben
zu können«, erweckt eine Stelle unser besonderes Interesse, und wir
wünschen unwillkürlich, durch sie angeregt, wohl auch in der Er-
innerung an die Gerichtsscenen in dem Roman »Brüder Karamasow«,
näheren Einblick in des Dichters Gedankengang in Bezug auf Gerichtspflege
zu gewinnen. Der Dichter rechtfertigt sich eingangs dieses Briefes gegenüber
dem Vorwurf seiner Correspondentin, dass er sich, insoferne es sich
um seine Publicationen im »Tagebuch eines Schriftstellers« handle,
zersplittere.

Im Jahre 1873 hatte Dostojewsky als Rédacteur und Mitarbeiter
der vom Fürsten W. P. Meščersky2) gegründeten Zeitschrift »Graždanín«
eine Reihe von Feuilletons schon unter diesem Gesammttitel veröffentlicht
(sie sind nun im IX. Bande seiner gesammelten Werke vereinigt) und war
am Schlusse desselben Jahres aus nicht näher bezeichneten Gründen
von der Redaction zurückgetreten. Mit Beginn des Jahres 1876 finden
wir ihn bei der Herausgabe eines eigenen Blattes, wozu ihn vor Allem
das Bedürfniss trieb, ein Organ zu haben, darin er sich, nach keiner
Seite gehemmt, endlich einmal über die Gegenwart auszusprechen ver-
möchte. Es entstand nun das »Tagebuch eines Schriftstellers«, eine
Monatsschrift grossen Formats im Umfange von 1—1½ Druckbogen,
die Dostojewsky ganz allein besorgte, was buchstäblich zu nehmen ist.
Er schrieb die Artikel, er stellte das Blatt zusammen, er sass bis in
die Nacht hinein in der Druckerei bei den Correcturen etc. Nur der
administrative Theil der Arbeit fiel, zu dessen grossem Vortheile
der Sorgfalt Anna Grigórjewna Dostojewskaja’s, des Dichters Gattin,
anheim.

Das Blatt erfreute sich sehr bald eines grossen Leserkreises,
welchem nichts willkommener war, als der energische Protest des
»Schriftstellers«, der auch dem Missvergnügen der Leser über manche
Erscheinungen des öffentlichen Lebens Worte lieh.


1) Aus dem »Anhang« des demnächst erscheinenden Buches der Ver-
fasserin: »Th. M. Dostojewsky, eine biographische Studie«.

2) Ich habe in meiner Arbeit die bequeme und Allen geläufige čechische Ortho-
graphie der Eigennamen an Stelle der verwirrenden Umschreibung russischer
Consonanten gesetzt, wie sie im Deutschen sonst üblich ist.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 180, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0180.html)