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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 197

Text

ALPHONSE DAUDET.
Von Jules Lemaître (Paris).

Vor einigen Tagen hat man ihn begraben. Was man da in die
Erde legte, das war die sterbliche Hülle einer charmanten Seele, die
mit den feinsten Sinnen begabt war und die es verstand, mit Worten
alle Schauer nnd Fieber der Erlebnisse auszudrücken. Eine unendlich
impressionable, zarte, liebevolle Seele. Deshalb kann man auch in der
Banalität und Eilfertigkeit der Lob- und Grabreden auf Daudet etwas
spüren, was man sonst nicht wahrnimmt, etwas von Ergriffenheit, eine
ungespielte Bewegung, Thränen oder wenigstens — wie die Griechen,
Daudet’s entfernte Väter, sagten — den »Wunsch nach Thränen«.

Niemand liebt das Leben mehr als Einer, der zwanzig Jahre
gelitten hat und mit einemmale vor dem Tode steht. Als Kind und
Jüngling war er — Daudet erzählte es selbst wiederholt — wie trunken
vor Freude, auf Erden zu sein, das Licht zu schauen und die Welt zu
fühlen. Er wurde von Nimes nach Lyon versetzt. Im Nebel der Fabriks-
stadt erwachte zum erstenmale in ihm das Bewusstsein seiner südlichen
Heimat. Er hat diese innere Sonne allzeit im Herzen getragen. In Paris
lebte er im Anfang ohne rechte Ordnung, er verschleuderte seine Zeit
und sein Talent. Wie ärmlich musste ein junges Talent sein, welches
in den Zwanzigerjahren kein Verschwender wäre? Eine Frau, seine
Frau, zieht ihn an sich und besänftigt ihn mit einemmal. Sie bringt
diesen Bohémien in Ordnung, sie bringt sein Haus in Ordnung und
macht ihn zu ernsten Arbeiten fähig. Dann kam noch eine Erzieherin
— seine Krankheit. Das Leiden vergrösserte sein Herz, erweiterte
seinen Gedankenkreis durch den Wunsch und die Anstrengung, vornehm
zu leiden. Im Schmerze nicht plebeisch werden, das waren die Grübe-
leien seiner schlaflosen Nächte. Ueberdies trieb die Krankheit auch
die künstlerische Nervosität seiner Ausdrucksweise auf die Spitze. Ich
weiss nicht, ob man bei irgend einem anderen Schriftsteller einen so
klaren Zusammenhang von künstlerischer und moralischer Sensibilität
finden wird.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 197, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0197.html)