Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 196
Text
Die Zeichnung und Illustration sind vielleicht der letzte, cha-
rakteristische Ausdruck, den die Kunst unserer nervösen Zeit ge-
funden hat.
Die Münchner Zeichnung gibt drei Dinge wieder: einestheils
die Schönheitsliebe, die sie in weich japanischen Formen oder in alt-
deutschen Idealen schwelgen lässt, in runden Linien, in Blumen, Haar-
schmuck in Landschaften voll zauberhafter Phantasie, voll Mond-
und Sonnenmärchen. Dann wiederum die nackt brutale Herbheit, mit
der z. B. der Franzose die Schattenseite unseres Lebens geisselt —
der Franzose, zu dem wir Deutsche ja doch immer wieder in die Schule
gehen. Und drittens den Hang, das Alles leicht zu nehmen, ob Leid,
ob Freud, zu lachen, Beide zu geniessen — den Hang zum — Variété.
Wie München, das kleine München, über zehn solcher Variétés birgt;
wie unsere Nerven in jeder Kunstbranche immer mehr nach dem
Grellen zu schreien scheinen, nach Sensationen jeder Art, das wäre
ein Capitel für sich. Nur wäre es ein Capitel, das mehr die ganze,
grosse, müde Welt umfassen würde, als just das kleine, lebensfrohe
München.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 196, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0196.html)