Text
Alphonse Daudet ist als Romancier durchaus Original. Der grosse
Realist war er und nicht Zola. Der Autor der Rougon-Macquart gestand
das eines Tages selbst loyalerweise ein. Daudet ist »hypnotisirt« von
der Wirklichkeit, so sagte Zola. Er »übersetzt« das, was er gesehen
hat, und bildet es um, aber immer nur das, was er selbst sah. Seine
Bücher, aus notirten Impressionen aufgebaut, haben theilweise noch
etwas von der Willkürlichkeit aller Impression an sich, aber das gibt
ihnen gleichzeitig ihre dauernde Lebendigkeit. Die Personen werden
uns nur vorgestellt in den Momenten, wo sie handeln. Und keine
Empfindung ist ihnen beigelegt, welche nicht von einer Geste, von
einer Miene begleitet, illustrirt, durch eine Stellung, eine Silhouette
erläutert wäre. Deshalb treten seine Bücher uns in so deutlichen Bildern
vor Augen und bleiben uns im Gedächtniss. Die Figuren der »psycho-
logischen« Romane sind uns nach beendeter Figur nichts Anderes als
entschwebende Schatten. Fast ebenso wie Balzac mit seiner Schwer-
fälligkeit hat Daudet mit seiner leichten Hand Gestalten geschaffen,
welche leben bleiben und den »Figuren der wirklichen Welt Con-
currenz machen«.
Dieser Realist ist voll Herrlichkeit. Er liebt. Er hat Mitleid. Er
verachtet nichts. Er hat sich bewahrt vor jenem brutalen und ver-
achtungsvollen Pessimismus, der eine Zeit lang in Mode war und sich,
man weiss nicht warum, Naturalismus nannte. Daudet ist in einem
Winkel aller seiner Bücher der Poet der kleinen Leute, der Dichter
der einfachen Schicksale gewesen. Aber er war auch den grössten
Sujets gewachsen. Ein bedeutender Theil der Geschichte des zweiten
Kaiserreiches und der dritten Republik ist im »Nabob« und in »Numa
Roumestan« heraufbeschworen, deren Personen und Abenteuer so sym-
bolisch, repräsentativ für die Welt und das politische Leben vor fünf-
zehn Jahren sind. »Le rois en exil« ist beinahe die Tragödie der
Könige von heute. »L’Evangeliste« ist eine der tiefsten Studien über
den religiösen Fanatismus. Wie merkwürdig ist dieses Zusammentreffen
des protestantischen Geistes mit der Seele des heidnischen Katholiken.
Und »Sappho« ist einfach die Manon Lescaut unseres Jahrhunderts. Das
ist unsere Uebertragung dieses ewigen Abenteuers von den Zauber-
lockungen des Fleisches, und zwar eine vollkommene, definitive Ueber-
tragung. Diese Bücher haben zugleich ein Lächeln über allen That-
sachen, einen unterirdischen Grundstrom von Mitleid und zärtlicher
Menschlichkeit, der sogar oftmals anschwillt und aus seinen Ufern zu
treten scheint.
Der Schriftsteller Daudet ist von der seltensten Qualität. Saint-
Simon, La Bruyère, Michelet stammen aus dieser Familie. Sein Styl
war, besonders in seinen letzten Werken, ausserordentlich sensitiv. Man
spürte darin die unmittelbare Erregung des Lebens. Nicht eine Phrase
von oratorischem Rhythmus, nicht eine didaktische Wendung.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 198, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0198.html)