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Kurze, abgehackte Wendungen wie elektrische Stösse. Keine
Pause. Eine fortgesetzte Erfindung. Gegen Schluss erschien die Im-
pression oft beinahe zu stark, zu scharf. Es war wie ein Zuviel an
Erregung, eine Beklemmung wie in Gewitterstunden. Man kann sagen,
dass von dieser Prosa, wenn man sie durchblättert, die Funken stieben.
Und trotzdem hat Daudet, ich weiss nicht wieso, sich in seiner
lebendigsten Verwegenheit zu hüten gewusst. Er ist mit den Worten
sparsam gewesen, er hat seine Lieblingsworte nicht durch allzu ofte
Benützung abgenützt und abgetödtet, er hat sich sowohl vor im-
pressionistischen Manieren wie vor Geziertheiten zu bewahren gewusst.
Daudet hatte einen Instinct seiner lateinischen Tradition, einen natür-
lichen Respect vor dem Genius der Sprache.
Habe ich diesen anbetungswürdigen Schriftsteller definirt?
Nein. Er ist in seiner hellen Durchsichtigkeit sehr complicirt. Man
begegnet in der Literatur meistens schöne Ungethüme, Phänomene,
welche dank der Bestimmtheit ihrer besonderen Begabung und Partei-
nahme sehr leicht zu beschreiben sind. Was aber soll man zu diesem
harmonischen Lateiner sagen? Er hat zu viel Merkmale: Nerven,
Ironie, sogar Pessimismus und Ungestüm, aber auch Heiterkeit, Komik,
Zärtlichkeit, Lust zu weinen. Für die vielen guten Leute (und für die
Anderen auch) besass Daudet eine Gabe, die Alles beherrscht: den
»charme«. Zu diesem einfachen und mysteriösen Wort muss man ge-
langen, wenn man von ihm spricht.
Aber wie definirt man den »charme«? Ein Classiker hat gesagt:
»Wenn man die diversen Schriftsteller prüft, wird man sehen, dass
jene Schriftsteller mehr gefallen, welche in unserer Seele zur selben
Zeit die meisten Erregungen hervorzurufen vermögen.« Passt diese
Reflexion nicht sehr gut auf Daudet? Ist es nicht die wesentlichste
Eigenschaft seines Talentes, diese Leichtigkeit und Flinkheit, mit
welcher er von einer Impression zur anderen übergeht und uns mit-
nimmt, während in selben Moment alle Saiten seiner verborgenen Lyra
zittern vor Erschütterung? Liegt nicht sein Charme in dieser Leichtig-
keit und unglaublichen Raschheit der Empfindung?
Gewiss, ich habe noch nicht Alles gesagt, nicht einmal Alles an-
gedeutet. Reden wir wieder von seiner edeln und graziösen Seele, die
sich mit jedem Tag veredelte! Man muss sich hier erinnern, dass
auch die Schmerzerfülltesten und liebevollsten Blätter über »das schreck-
liche Jahr« von Daudet geschrieben wurden. Vergessen wir nicht, dass
dieser Mann, dessen Sensibilität und Vorstellungskraft so lebendig
waren, dessen Beobachtungskraft so kühn war, nicht eine unreine Seite
hinterlassen hat. Er hat in einer Zeit, wo die Reinlichkeit an Cours-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 199, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0199.html)