Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 215

Künstlerherzen (Drachmann, Holger)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 215

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KÜNSTLERHERZEN. 215

dazu. So ging ich denn wieder aus. Ich durchkreuzte das Dorf, trieb
mich längs der Höhen hin, machte an jedem Aussichtspunkte Halt.
Suchte ich etwas? Ach, ich weiss nicht — vielleicht ein Zusammentreffen.

Aber dann ging ich ernstlich mit mir selbst zu Gerichte. Ich,
der ich der Aeltere und Erfahrene war ich, der ich über Heinrich
wachen wollte Und je weiter der Nachmittag vorschritt, und je
müder ich durch mein vergebliches Suchen wurde, desto deutlicher
ging mir die Verantwortlichkeit und die Würde meiner Mentorrolle auf.
Und als ich am Abende im Fenster lag und meine Pfeife rauchte, da
hatte ich mir das Ganze so fein in meinem Kopfe zurechtgelegt: ich
wollte ihn so und so nehmen, vorsichtig, äusserst delicat, genau so,
wie man eine Künstlernatur behandeln muss

Und dann kam er. Es war eine heimliche Freude, etwas zitternd
Gespanntes, etwas Stolzes in seinem Gesichte zu lesen, und das kühlte
meinen Eifer sofort ab, besonders da er schwieg und keinerlei Mitthei-
lung machte.

Er war aber doch auch ein zu verschlossener Mensch! Und dann
konnte es mich erbosen, dass er so umherlief, über seine eigenen
Triumphe stolperte und meine Bücher herunter auf die Diele riss.

Keine Spur von Niedergeschlagenheit über die Launen eines
Weibes! Keine durch eine Kokette hervorgerufene Melancholie, die
ihre Augen ganz wo anders hin geworfen hatte!

Es überkam mich geradezu eine Freude, als ich endlich sah,
dass er sich zur Ruhe begab. Ich zündete die Lampe an und setzte
mich an meine Papiere. Meine Stirn brannte. Ich stiess das Fenster
auf — da lag die stille Augustnacht über Dorf und Hügeln. Sie barg
noch ein gut Theil des Glanzes der Sommernacht hinter ihrer feier-
lichen Herbstmiene, und der Himmel strahlte von Sternen. Da schoss
eine Sternschnuppe in weitem, weitem Bogen.

So war der Blick ihres Auges auf mich gefallen. Ich schritt im
Zimmer auf und ab und blickte ab und zu hinüber nach der Schlafkammer.

Das Kind da drinnen! Das sollte ihm doch wirklich erspart bleiben!

Ich setzte mich an den Tisch. Noch bevor auch ich mich zur
Ruhe begab, lag ein weiteres beschriebenes Blatt in der Mappe, der
ich meine Lieder anvertraute.

(Schluss folgt.)


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 6, S. 215, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-06_n0215.html)